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# taz.de -- Debatte Wahl in Großbritannien: Gehängte Demokratie
> Neun Millionen wahlberechtigte Frauen wählen nicht. Viele von ihnen
> verdienen weniger als das Existenzminimum. Die Wahlprogramme hauen keinen
> um.
Bild: Einzug in Westminster: Migration ist eines der Wahlkampfthemen.
Selten war der Ausgang britischer Unterhauswahlen so ungewiss wie diesmal.
Fest steht lediglich, dass weder Labour, noch die Tories am 7. Mai eine
absolute Mehrheit erreichen werden. Das alte Zweiparteiensystem ist vorerst
– und vielleicht für immer – am Ende. Früher stimmten 80 Prozent für Tor…
beziehungsweise Labour, heute sind es nicht einmal mehr zwei Drittel. Die
Briten bezeichnen das als „kontinentale Verhältnisse“. Die Sprache drückt
die Abneigung dagegen aus: Ein „hung parliament“, ein „gehängtes
Parlament“, ist eins ohne klare Mehrheitsverhältnisse.
Woran liegt es, dass die Wähler den beiden großen Parteien den Rücken
kehren? Viele haben die Nase voll von immer neuen Skandalen um
Spesenbetrug, von Parlamentsanfragen, die von Lobbyisten bezahlt werden,
und von hohen Zuschüssen für angebliche Zweitwohnsitze, während die Löhne
stagnieren und der Lebensstandard für die Mehrheit der Bevölkerung sinkt.
Sicher, die britische Wirtschaft wächst nach der weltweiten Krise wieder,
sogar stärker als in den meisten anderen europäischen Ländern, aber die
Staatsschulden sind nach wie vor immens.
Darüber hinaus ist es keine demokratische Wahl. Die Tories haben neue
Hürden für die Registrierung der Wahlberechtigung aufgebaut, und ohne
Registrierung darf man nicht wählen. Die Regierungspartei weiß, dass das
vor allem junge Leute und untere Einkommensschichten trifft, und die wählen
nun mal nicht konservativ.
Bei den Wahlen vor fünf Jahren hatten sich 7,5 Millionen Wahlberechtigte
nicht die Mühe gemacht, sich registrieren zu lassen, diesmal sind es noch
mehr. Neun Millionen wahlberechtigte Frauen wählen nicht – vor allem im
Nordosten Englands, wo ein Drittel der Frauen weniger als das
Existenzminimum verdient. Labour-Politiker touren durch diesen Landesteil
in einem rosafarbenen Bus, um die Frauen zur Wahl zu animieren.
## Kaum Sitze trotz vieler Stimmen
Das undemokratische Wahlsystem fördert Apathie. Wer die meisten Stimmen im
Wahlkreis erhält, gewinnt den Unterhaussitz, während die anderen leer
ausgehen, selbst wenn sie nur eine Stimme weniger haben. Die Grünen zum
Beispiel können mit 6 bis 7 Prozent der Stimmen rechnen, was eigentlich 40
bis 45 Sitzen entspräche, aber sie werden vermutlich nur einen erhalten.
Die rechte United Kingdom Independence Party (Ukip) dürfte auf 14 Prozent
kommen, doch statt der 97 Sitze werden es wohl nur 4.
Viele wählen deshalb nicht, weil ihr Lieblingskandidat ohnehin keine Chance
hat, oder sie stimmen nicht nach politischer Überzeugung, sondern nach
taktischen Erwägungen. Dafür gibt es sogar eine Webseite, auf der man
Stimmen „tauschen“ kann: Einer wählt gegen seine Überzeugung Labour statt
die Grünen, damit der Tory-Kandidat nicht gewinnt, der Labour-Anhänger
hingegen wählt grün, weil Labour in seinem Wahlkreis chancenlos ist.
100.000 Menschen haben sich auf der Webseite angemeldet.
Im Wahlkampf spielt Außenpolitik eine untergeordnete Rolle. Dabei hängt
eine für Großbritannien zukunftsweisende Entscheidung von dieser Wahl ab.
Cameron hat der Bevölkerung für den Herbst 2017 ein Referendum über den
Verbleib in der Europäischen Union versprochen, wenn er wiedergewählt wird.
Von der Weltbühne hat sich Großbritannien bereits zurückgezogen. Ob
Ukraine, ob Naher Osten – Großbritannien hält sich raus. Die Londoner
Politelite hängt zwar noch immer Großmachtträumen an und hofiert die USA,
doch seit der damalige Labour-Premier Tony Blair Großbritannien mit
gefälschten Dossiers in die Kriege im Irak und in Afghanistan getrieben
hat, sind die Menschen kriegsmüde.
Im vergangenen August verweigerte das Parlament dem Premierminister David
Cameron die Erlaubnis, in Syrien mitzumischen. Die Abgeordneten reagierten
damit auf den Druck ihrer Wähler. Die haben sich damit abgefunden, dass
Großbritannien nur noch ein Land unter vielen ist.
So konzentrieren sich die Parteien weitgehend auf innenpolitische Themen.
Die Tories wollen sich als Partei der Vernunft präsentieren, sie verweisen
auf das Wirtschaftswachstum und die etwas niedrigere Neuverschuldung. Damit
das so bleibt, wollen sie den Sozialhaushalt um 12 Milliarden Pfund kürzen.
Labour will diesen Bereich unangetastet lassen und mehr investieren, der
Mindestlohn soll bis 2019 auf mehr als 8 Pfund pro Stunde steigen.
Gleichzeitig ist die Partei aber bemüht, den ihr noch immer anhängenden Ruf
zu zerstreuen, dass die Finanzen des Landes bei ihr nicht gut aufgehoben
sind.
## Reform gründlich misslungen
Wahlprogramme sind schön und gut, aber sie locken niemanden hinterm Ofen
vor. Was hatte Premierminister David Cameron bei seinem Amtsantritt vor
fünf Jahren nicht alles versprochen. Er wollte seine überalterte Partei
erneuern und Frauen stärker einbinden, er versprach die grünste Politik
aller Zeiten, er propagierte die „big society“, die „große Gesellschaft�…
die im Gesundheits-, Bildungs- und Sozialwesen Mitspracherechte bekommen
sollte. Nichts ist davon übrig geblieben. Umweltpolitik ist für Cameron
heute „grüner Mist“, bei den Wahlen kandidieren weniger Frauen für die
Tories als vor fünf Jahren, die Vision der „big society“ ist ad acta
gelegt.
Gründlich misslungen ist ihm die Reform seiner rückwärtsgewandten Partei.
Der rechte Flügel, vor allem die Abgeordneten in marginalen Wahlkreisen,
treiben ihn aus Angst vor der antieuropäischen Ukip vor sich her und
nötigen ihn zu immer mehr Zugeständnissen an die Stammtische. Hatte er vor
fünf Jahren noch vor „Besessenheit bei der Europa-Frage“ gewarnt, so hat er
sich nun widerwillig auf den Volksentscheid über die EU-Zugehörigkeit
eingelassen. Derzeit ist eine Mehrheit für den Austritt.
Ukip hat den beiden großen Parteien auch das Thema Einwanderung
aufgezwungen. Die Erfolge bei Kommunal- und Europawahlen zeigen, dass sie
damit den Nerv der Briten trifft, das wissen auch Cameron und Miliband.
Dabei zahlen die Immigranten aus anderen EU-Ländern weit mehr Steuern, als
sie Leistungen beanspruchen, wie [1][eine Studie der University of London]
ergeben hat. Aber mit Feindbildern gewinnt man leichter Stimmen als mit
Fakten.
1 May 2015
## LINKS
[1] http://www.ucl.ac.uk/news/news-articles/1114/051114-economic-impact-EU-immi…
## AUTOREN
Ralf Sotscheck
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