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# taz.de -- Blogger über Protestformen: Beleidige nicht meine Generation
> Unser Autor ist gelangweilt von den Feuilletonkritiken an seiner
> Generation. Ständig soll sie sich empören. Warum denn?
Bild: Occupy-Demonstrant mit Trillerpfeife ruft zu Empörung auf, Frankfurt 201…
Empört euch, posaunen die Wortführer! Protestiert richtig, schreien die
Lehrmeister! Warum unsere Protestbewegungen keine Früchte tragen, fragen
sich Kulturschaffende. Halbherzigkeit und Konzeptlosigkeit sind die
Diagnosen. [1][Occupy-Bewegung] begann vielversprechend und ebbte ab.
[2][Der Arabische Frühling] sprühte Hoffnungsfunken, um bald wieder zu
verglühen. Was läuft bei uns schief? Rein gar nichts. Im Gegenteil, wir
üben uns in Gleichgewicht, um historische Schiefen zu korrigieren.
Was genau wird von uns erwartet, wenn man in den Feuilletons aufschreit:
„Empört euch richtig!“? Zwischen den Zeilen beschwört man eine
Revolutionsromantik, für die unsere Generation nicht mehr empfänglich ist.
1968, 1918, 1848, alles Jahrgänge, in denen die Jugend mit Eisen und Blut
Widerstand leistete, sich richtig empörte. Und wir nehmen unsere
Kuscheltiere mit auf die Demo anstelle einer Steinschleuder, schlürfen
unsere Cocktails, anstatt Molotowcocktails zu bauen. Warmduscher,
Weicheier, Windelträger? Nein! Schüler, die ihre Geschichtshausaufgaben
nachholen.
Wir haben gelernt, dass Revolutionen ihre Kinder fressen. Unsere
Revolutionen sind samtig, sanft und seidig. Wir wissen, dass Gewalt
Spiralen erzeugt. Wir bleiben kompromisslos friedlich. Das heißt aber
nicht, dass wir uns nicht empören können. Wir suchen neue Wege, um unserer
Wut Ausdruck zu verleihen. Wir besetzen öffentliche Plätze, sammeln
Unterschriften, politisieren Graffiti, und [3][erringen am Ende die
Freiheit der Tempelhofer Freiheit.] Wir sind wohl in der Lage, da
hinzugehen, wo es wehtut, ohne jemandem wehzutun. Wir sind Aktivisten des
passiven Widerstands.
Warum unterstellt man uns Halbherzigkeit? Weil wir den Zweifel zu einem
Grundpfeiler unseres Denkens erkoren haben. Wir zweifeln alles an, was
Gefahr läuft, sich schwarz-weiß zu färben. Freund-Feind-Unterscheidung
gehört dem letzten Jahrhundert an, wir widmen uns der
Freund-Freund-Gleichheit. Ideologien, Religionen und Lehransätze sind ein
Teil vom Ganzen. Absolute Wahrheiten bewahrheiten sich nie. Eine einzige
Richtung gibt es für uns nicht. Die alte Leier vom neuzeitlichen Menschen,
der nach einer klaren Weltanschauung lechzt, ist ausgefranst. Die
Kinderschuhe sind zu eng geworden. Das wissen wir.
## Rosinenpicken im theoretischen Kuchen
Geschlossene Weltbilder haben ausgedient. Wir sind im Begriff, den Ismen
die Allgemeingültigkeit abzusprechen. Ismus ist für uns kein Ist-Muss,
sondern ein -Kann. Kapitalismus, Marxismus, Anarchismus, Liberalismus sind
nur Teile eines theoretischen Kuchens. Wir picken uns die Rosinen aus. Wir
scheuen uns nicht davor, Gedanken verschiedener Denkansätze
zusammenzudenken. Wir lieben die „win hoch n situations“. Ein Banker, der
Yoga macht, abends persisch isst und Brecht doch nicht so übel findet. Ja!
Warum nicht?
Wir lassen uns auf Vielfalt ein, selbst wenn Merkel und Sarrazin sie für
gescheitert erklären. Althergebrachte Grenzen öden uns an. Eine neue
Internationale braut sich zusammen, die sich intuitiv organisiert. Ein
Gespenst geht um in der Welt, das tanzt, singt, feiert und lacht. Wir
wollen zurück zu den Wurzeln der Menschlichkeit. „Leben, leben lassen und
zusammenleben“ heißt unsere Maxime.
Wir wollen die soziale Gerechtigkeit, ohne uns auf Marx berufen zu müssen.
Wir sind echte Demokraten, ohne aus Überzeugung wählen zu gehen. Wir sind
das politische Spektrum jenseits von links und rechts. Wir werden unsere
Ideale zugunsten einer Ideologie nicht verraten. Darum halten wir an
flachen Hierarchien fest. Darum geben wir lieber auf, bevor Menschlichkeit
in Theorien verpackt wird.
Das ist der Unterschied zu den Generationen vor uns.
Wir sind eins, und doch sind wir viele.
Ihr seid argwöhnisch genug, um diesen Text als zu pathetisch geraten zu
belächeln. Ihr seid friedfertig genug, um den Poeten nicht von der Bühne zu
prügeln.
Und ich
sage mit geschwellter Brust
Wir.
1 May 2015
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