# taz.de -- Zum Tod von Stéphane Hessel: Seine Empörung bleibt | |
> Mit „Empört euch!“ traf Stéphane Hessel den Nerv der Zeit. Bis zuletzt | |
> mischte sich der ehemalige Widerstandskämpfer, Diplomat und Buchautor | |
> ein. Gestern starb er. | |
Bild: Stéphane Hessel bei einem Auftritt in Nantes im Januar 2012 | |
Seit dem „Kommunistischen Manifest“ von Marx und Engels hat wohl selten ein | |
so kleines Pamphlet so große Beachtung gefunden wie Stéphane Hessels | |
Büchlein „Indignez-vous!“, das neben unzähligen Übersetzungen rund um die | |
Welt unter dem Titel „Empört euch!“ auch auf Deutsch erschienen ist. | |
Vielleicht zu Unrecht wird nicht von der außerordentlich bewegten Karriere | |
dieses einstigen Mitglieds des Widerstands gegen die Nazis und Diplomaten | |
im Dienst Frankreichs und der Vereinten Nationen die Rede sein, sondern vor | |
allem von diesem Alterswerk. | |
Dieser moralisch und politisch motivierte Aufruf zur Empörung eines über | |
die Gegenwart erzürnten alten Mannes bleibt. Der Autor, der Franzose | |
Stéphane Hessel, ist in der Nacht zum Mittwoch 95-jährig gestorben. Auf ihn | |
werden sich weiterhin demonstrierende „Indignés“ oder „Indignados“ ber… | |
Hessel blickte auf ein erfülltes Leben zurück und gab freimütig auch zu | |
persönlichen Themen Auskunft. In einem taz-Interview antwortete er mir im | |
Februar 2011 auf die Frage, ob er in seinem Alter Angst vor dem Tod habe: | |
„Gott sei Dank nein. Ich verspüre sogar eher mit einer gewissen Art | |
Gourmandise eine Lust auf den Tod. Ich bin Atheist, aber aufgrund meiner | |
Beziehung zur Dichtung sehe ich den Tod nicht nur als Ende des Lebens, | |
sondern als Übergang zu etwas anderem, von dem man nichts weiß – vielleicht | |
eine Art Schlaf, wie dies Shakespeare so schön sagte.“ | |
Weit über 90-jährig rezitierte der zweisprachige Hessel gelegentlich lange | |
Gedichte auf Französisch und auf Deutsch auswendig aus dem Kopf; der | |
Applaus des erstaunten Publikums war ihm jedes Mal sicher. Viele Junge | |
gestanden insgeheim bewundernd, dass von diesem Alten viel zu lernen sei. | |
Hessel fühlte sich berufen, seine reichhaltige Lebenserfahrung mit den | |
jüngeren Generationen zu teilen. Diese Mission schien ihm eine für sein | |
hohes Alter geradezu unglaubliche Energie zu geben. Fast bis zuletzt reiste | |
er zu Lesungen und trat bei Podiumsdiskussionen auf. Bei Wahlen bezog er | |
Position, meistens für die Linke – entweder für die Grünen oder die | |
Sozialisten. Bei deren letztem Parteikongress hatte er einen Beitrag mit | |
unterzeichnet, der minoritär blieb. Am liebsten aber äußerte er sich in | |
Interviews zu aktuellen Fragen der Weltpolitik. Vor allem mit seiner | |
ausgesprochen propalästinensischen Haltung machte er sich nicht nur | |
Freunde. | |
Kürzlich wurde die Fassade des Mietshauses im Süden der Hauptstadt Paris, | |
wo er mit seiner Gattin lebte, von Unbekannten mit Hakenkreuzen beschmiert. | |
Obwohl er es nicht zugeben wollte, haben diese Schmierereien Hessel sehr | |
getroffen, da er aus einer jüdischen Berliner Familie stammte und wegen | |
seines Kampfs gegen die Besetzung Frankreichs durch Hitlers Truppen | |
verhaftet und ins Konzentrationslager deportiert worden war. | |
## Eine unglaubliche Energie | |
Hessel kam am 20. Oktober 1917 in Berlin auf die Welt, übersiedelte jedoch | |
schon als Siebenjähriger mit seinen Eltern nach Paris, wo er in einem Kreis | |
von Literaten aufwuchs. Sein Vater, der Schriftsteller und Übersetzer Franz | |
Hessel, und seine Mutter Helen Grund (von der er seine „preußische | |
Frohnatur geerbt“ habe, wie er sagte) bildeten zusammen mit dem | |
französischen Autor Henri-Pierre Roché ein Trio, das von Regisseur François | |
Truffaut später in dem Kultfilm „Jules et Jim“ verewigt worden ist. Als | |
frisch eingebürgerter Franzose wurde er 1939 gleich nach seinem | |
Philosophiestudium mobilisiert und als Offizier an die Front geschickt. | |
Zu den Geschichten, die er gern erzählte, gehört seine Flucht vor der | |
Kriegsgefangenschaft. Bereits 1941 schloss er sich der „France libre“ an, | |
die an der Seite der Alliierten gegen Deutschland kämpfte. Als Mitglied der | |
„Résistance“ wurde er von der Gestapo verhaftet und 1944 ins KZ Buchenwald | |
deportiert, wo er nur überlebte, weil er mithilfe eines Arztes die | |
Identität eines an Typhus verstorbenen Mithäftlings übernommen hatte. | |
Während des Weitertransports in ein anderes Vernichtungslager konnte er | |
fliehen und sich bis zu den amerikanischen Truppen durchschlagen. Er habe | |
so viel Glück gehabt, dass dies vielleicht seinen Optimismus und seine | |
Lebensfreude erkläre, meinte er. | |
Weit weniger geläufig war den meisten seiner Mitbürger, dass er nach | |
Kriegsende als UN-Diplomat mit René Cassin (dem späteren | |
Friedensnobelpreisträger) die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ d… | |
UN redigiert hat. Nach verschiedenen Posten als Berater von Ministern wurde | |
Hessel 1977 Frankreichs ständiger Vertreter bei der UN und im | |
Weltsicherheitsrat. Von 1981 bis 1983 arbeitete er unter Präsident François | |
Mitterrand als Delegierter für die Entwicklungszusammenarbeit. | |
In den Ruhestand trat Hessel eigentlich nie. Er verfasste mehrere Bücher, | |
deren Titel allein viel über sein humanistisches Engagement aussagen: „Tanz | |
mit dem Jahrhundert“, „Zehn Schritte ins neue Jahrhundert“, „Bürger oh… | |
Grenzen“. Da an „Indignez-vous!“ kritisiert wurde, es werde zu wenig | |
deutlich, was Hessel selbst auf die Barrikaden treibe, legte er mit seinem | |
Kameraden aus der „Résistance“, Edgar Morin „Le Chemin de l’espérance… | |
(„Wege der Hoffnung“) nach und konkretisierte seinen Aufruf gegen die | |
Resignation mit dem Dialogbuch „Engagez-vous!“ („Engagiert euch!“). Die… | |
Imperativ wird nun zum Nachlass. | |
27 Feb 2013 | |
## AUTOREN | |
Rudolf Balmer | |
Rudolf Balmer | |
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