# taz.de -- Verbotskultur in Deutschland: Regeln und ihre Ausnahmen | |
> Entgegen einem weit verbreiteten Klischee sind die Deutschen sehr | |
> flexibel. Solange das Gesetz eingehalten wird und Ordnung herrscht. | |
Bild: Auf dem Potsdamer Platz darf man eigentlich gar nichts. | |
An irgendeinem Berliner Morgen sitze ich im Bus, irgendwo in Neukölln, und | |
starre vor mich hin. Ein junger Mann steigt ein, in der rechten Hand einen | |
Pappbecher und in der linken seinen Fahrschein. Den hält er dem Fahrer hin, | |
er will durchgehen. Doch der Fahrer sagt, er könne nicht mit dem Becher | |
einsteigen, weil der keinen Deckel habe und das sei aus Sicherheitsgründen | |
verboten. Der junge Mann versteht ihn nicht. | |
Er fragt nach, in holprigem Deutsch mit stark französischem Akzent. Der | |
Fahrer wiederholt langsam, sehr deutlich und didaktisch seine Sache. Der | |
Franzose hat es jetzt verstanden. Er versucht, den Busfahrer zu überzeugen, | |
ihn doch durchzulassen, weil da fast gar kein Kaffee mehr in dem Becher | |
ist. Er zeigt ihm den Becher als Beweis, aber der Fahrer schaut nicht | |
hinein, weil Regeln nun mal Regeln sind und bei dieser bestimmten Regel | |
geht es nicht darum, wie viel Kaffee in dem Becher ist, sondern ob | |
überhaupt. Für einen kurzen Moment scheint die Situation unlösbar. Der | |
Fahrer besteht auf die Einhaltung der Regel, und der junge Mann will die | |
Begründung nicht akzeptieren und steigt deswegen auch nicht wieder aus dem | |
Bus. | |
Solche Auseinandersetzungen führen nirgendwohin, außer zu Frustration. | |
Deshalb will ich dem Franzosen mein Geheimwort für Deutschland zuflüstern, | |
ein Wort, das mich in solchen Situationen schon oft gerettet hat. Ein Wort, | |
das die Kraft hat, Konflikte zu lösen und eiserne Regeln zu brechen. Ich | |
habe gelernt, dass es sehr schwer ist, Deutsche davon zu überzeugen, | |
bestimmte Regeln in bestimmten Situationen zu umgehen, wenn ich sie sinnlos | |
finde oder zumindest in diesem bestimmten Moment unnötig. | |
Ich will ihm sagen, dass er das Wort „Ausnahme“ benutzen soll. Er soll den | |
Busfahrer ganz sanft und offenherzig fragen: „Können Sie nicht eine | |
Ausnahme machen?“ Und der Busfahrer wird überlegen, in den Kaffeebecher | |
schauen und dann sagen: „Das ist aber wirklich nur eine Ausnahme.“ Und der | |
Franzose wird ihm zustimmen, auf eine zugleich dankbare und anerkennende | |
Weise. | |
## Großzügige Ausnahmen | |
Eine Ausnahmesituation ist etwas Besonderes, feinfühlig und großzügig. Wir | |
verstoßen nicht gegen die Regeln, aber wir haben eine zerbrechliche Blase | |
erschaffen, die Raum gibt für neue Möglichkeiten. Es ist wie eine Art | |
Vertrag, in dem beide Seiten deklarieren, dass es sich um eine einmalige | |
Situation handelt und dass sie das Gesetz nicht in Frage stellen wollen. | |
Denn wenn man damit erst einmal anfängt, dann hört das gar nicht mehr auf | |
und es herrscht schnell Chaos. Und wer sollte auch in der Lage sein, zu | |
entscheiden, ob diese ganzen Regeln Sinn machen oder nicht? Jeder sieht es | |
anders. Dank der Ausnahme kann man Ordnung bewahren, obwohl man die Regeln | |
nicht befolgt. | |
Der Busfahrer hat den Deal vollzogen und erklärt, dass er die Ausnahme | |
unter der Bedingung macht, dass sie wirklich einmalig ist, dass die Regeln | |
verstanden wurden und dass sich das nächste Mal wieder richtig verhalten | |
wird. Entgegen einem weit verbreiteten Klischee sind die Deutschen sehr | |
flexibel, wirklich nicht weniger als andere Nationen. Es muss aber einen | |
geregelten Rahmen dafür geben. Oder noch besser: eine | |
Einverständniserklärung. | |
Der Franzose setzt jetzt aus Dankbarkeit sogar noch einen drauf und er | |
verspricht aus eigener Initiative, das Getränk nicht weiter zu trinken, | |
solange er im Bus sitzt. | |
Wir fahren weiter und ich denke an ein weiteres Zauberwort. | |
Missverständnis. | |
## Zustimmung durch Missverständnisse | |
Aus einem Streit gibt es drei Auswege. Erstens: Die eine Seite gibt zu, | |
dass sie im Unrecht war, und akzeptiert die Meinung des anderen (und das | |
passiert so gut wie nie). Zweitens: Beide Seiten haben keine Lust mehr auf | |
Streit und sind offen für Rettung oder Ablenkung in Form einer Intervention | |
von außen, zum Beispiel eines Telefonanrufs, Unfalls oder Feueralarms. Oder | |
drittens, mein zweites Lieblingswort: Missverständnis! | |
Beide Seiten wissen ja genau, dass sie eigentlich genau verstanden haben, | |
was der andere meint, denn deshalb haben sie ja lange, heftig und | |
leidenschaftlich miteinander diskutiert bzw. gestritten. Aber um einen | |
Ausweg zu finden, sagen sie: „Das war ein Missverständnis“, und damit | |
stimmen beide Parteien zu, nicht zuzustimmen, und jeder kann glücklich nach | |
Hause gehen. | |
Ich liebe diese zwei Wörter, und sie retten mich immer wieder aus | |
unangenehmen Situationen. | |
Während der Bus auf den Hermannplatz im Zentrum Neuköllns zusteuert, denke | |
ich, dass der Zauber dieser Wörter nur in Deutschland funktionieren kann. | |
Wenn ich sie zum Beispiel in Israel, wo ich herkomme, benutze, haben sie | |
leider keine richtige Wirkung. Im Gegenteil – das Wort Ausnahme fordert | |
sogar den Widerspruch heraus. In einem Land, wo Regeln täglich und ständig | |
umgangen werden, weil jeder für sich selbst die Regeln interpretiert, wenn | |
man dann nach einer Ausnahme fragt, wird den Leuten wahrscheinlich erst | |
bewusst, dass es ja eigentlich Regeln gibt, und man bekommt zu hören: | |
„Nein, wir machen keine Ausnahme!“ | |
9 May 2015 | |
## AUTOREN | |
Ester Amrami | |
## TAGS | |
Ausnahmen | |
Gesetz | |
Deutschland | |
Antisemitismus | |
Nordrhein-Westfalen | |
Berlin | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Avi Primor zu Deutschland und Israel: „Verständnis für Israel schwindet“ | |
Der ehemalige Botschafter ermuntert die Deutschen, einen ehrlichen Dialog | |
mit Israel zu führen. Dazu gehöre auch Kritik. | |
Jagdgesetz in Nordrhein-Westfalen: Katzenabschuss wird verboten | |
Der grüne Umweltminister in NRW verbietet brutale Fangmethoden und schützt | |
mehr Tierarten. Waidmänner sind empört über die „grüne Arroganz“. | |
Null-Toleranz-Zone im Görlitzer Park: Kein Recht auf Rausch | |
Seit einem knappen Monat ist der Besitz von Cannabis im Berliner Görlitzer | |
Park verboten. Selbst Joints werden von Beamten beschlagnahmt. Eine Bilanz. |