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# taz.de -- Neue Performance vom Rimini Protokoll: Backmischung Europa
> Die Theatergruppe Rimini Protokoll inszeniert Europa als kurzweiliges
> Gesellschaftsspiel. Quizshow und Schokoladenkuchen inklusive.
Bild: Europa besteht nicht nur aus Linien, sondern auch aus Kuchen.
BERLIN taz | Ein Hinterhof in Neukölln. Unbekannte treffen sich vor einer
Haustür. „Wollt ihr auch nach Europa?“ Eine fremde Klingel wird gedrückt,
fünf Stockwerke hinaufgestiegen. „Bitte Schuhe ausziehen und
hereinspaziert.“ So beginnt „Hausbesuch Europa“, die jüngste Performance
des Rimini Protokolls.
Das Kollektiv, das zuletzt mit einer [1][inszenierten Weltklimakonferenz]
und einer [2][Performance zum Thema Waffenbesitz] auf sich aufmerksam
machte, betreibt Theater als Versuchsanordnung. Für ihr neues Werk wurden
Menschen aus Berlin, Bergen, Lissabon, Poznań und anderen Städten gebeten,
ihre Wohnungen zur Verfügung zu stellen. So soll laut der Dramatikerin
Helgard Haug ein privater Blick auf Europa gelingen.
Dreizehn internationale Gäste drängen sich um zwei zusammengeschobene
WG-Tische, die mit einer selbst gemalten Europakarte bedeckt sind. Zunächst
soll jede_r Mitspieler_in drei Punkte einzeichnen und diese verbinden: den
Geburtsort, einen Ort mit emotionaler Bindung und einen Ort eines längeren
Auslandsaufenthaltes. Schnell entsteht ein buntes Geflecht auf der Karte.
Taktgeber der Performance ist ein selbstgebastelter Apparat. „Sollen wir
nun entscheiden, welchen Draht wir durchschneiden müssen“, scherzt ein
Teilnehmer. Europa als Bombenentschärfung? Doch auf Knopfdruck spuckt der
Apparat nur einen Zettel mit den Spielinstruktionen aus. Dazu fiept eine
verfremdete Version von Beethovens 9. Sinfonie aus der schwarzen Box, die
vom Spielleiter liebevoll „the evil machine“ genannt wird.
## Fragen über Fragen
Heute Abend findet die Performance auf Englisch statt. Sie ist in fünf
Level eingeteilt. Jedes beginnt mit einer geschichtlichen Nachhilfestunde
zur europäischen Integration. In der ersten Spielrunde werden der
Gastgeberin Fragen gestellt, die der Apparat auswirft: Warum sie in dieser
Gegend wohnt, welche Parteien ihre Nachbar_innen wählen und was es mit dem
leicht kitschigen Frauenbild im Esszimmer auf sich hat. Ein erstes
Kennenlernen, wenn auch ein oberflächliches.
Level 2: Nun werden alle am Tisch Sitzenden gefragt: Wer engagiert sich in
einer NGO, wer hat Angst vor der Zukunft, wer fühlt sich eher als
Europäer_in denn als Angehörige_r des Heimatlandes? Zudem sollen sich die
Spieler_innen selbst bewerten: „Auf einer Skala von 1 bis 5, wie hoch
schätzt du deine Solidarität, dein Vertrauen in die Demokratie oder deine
Vorteile durch den freien Markt ein?“
All diese Informationen werden vom Spielleiter festgehalten. Das ist für
den weiteren Verlauf des Spiels notwendig, aber auch darüber hinaus. Auf
der [3][projektbegleitenden Website] sollen in Kürze alle gesammelten
Informationen abrufbar sein. So entsteht über die nächsten Monate ein
europäisches Stimmungsbild, jenseits aller Sonntagsreden und
Krisenberichterstattung.
Der europäische Kuchen, der bei dieser Performance nicht nur Metapher,
sondern eine reale Backmischung ist, wird in den Ofen geschoben. Auf Basis
der zuvor preisgegebenen Informationen werden die Gäste nun in Zweier-Teams
aufgeteilt. Das Spiel bekommt nun den Charakter einer Vorabend-Gameshow.
Für richtig beantwortete Quizfragen erhält jedes Team Punkte. Mehr Punkte
bedeuten am Ende mehr Kuchen.
## Europäische Entgrenzung
Das hinten liegende Team hat zum Schluss die Möglichkeit, eine Grenze auf
der Karte zu entfernen, zu verschieben oder einzufügen, um weitere Punkte
zu sammeln. Die beiden entscheiden sich dafür, die spanische Grenze nach
Süden zu verschieben, damit auf dem afrikanischen Kontinent Asylanträge
gestellt werden können. Ein Vorschlag, der von allen goutiert wird.
Am nächsten Abend, wenige Kilometer weiter in einer Kreuzberger Wohnung,
ist es die türkische Grenze, die aufgehoben werden soll. Der Antrag findet
keine Zustimmung. Die Gruppe ist etwas älter und spielt auf Deutsch. Im
Vergleich zu der Spielrunde des Vorabends herrscht weniger Angst vor der
Zukunft.
„Was denkst du, was die meisten in dieser Spielrunde als die größte
Errungenschaft Europas ansehen?“ In der internationaleren jüngeren Gruppe
antworteten die meisten mit der Bewegungsfreiheit, die durch die offenen
Grenzen gewährleistet ist. In der älteren nennen alle den Frieden. Ein
willkommener Anstoß zum Gedankenaustausch.
Doch substantielle Diskussionen kamen nicht auf. Alle hielten sich an das
durch den schwarzen Apparat vorgegebene Protokoll – außer bei der
Kuchenverteilung. An beiden Abenden wird der Kuchen nach zwei Stunden, die
Punkteverteilung missachtend, in gleichgroße Stücke geschnitten. Europa als
Solidargemeinschaft.
## Augen zu und durch
Im Laufe der Performance sollten die Mitspieler_innen die Augen schließen
und sich einen Ort vorstellen, an dem Europa nicht funktioniert. „Ich
glaube, wir haben alle den gleichen Ort vor Augen“, sagte ein Teilnehmer.
Erst beim Verlassen der Wohnung zeigt sich, dass es tatsächlich
unterschiedliche Orte waren. Eine Mitspielerin dachte an Brüssel, ein
andere an Griechenland, einer an das Massengrab Mittelmeer.
Was also ist Europa? Ein Gesellschaftsspiel für die ganze Familie? Ein
Backmischungskuchen, um dessen Stücke sich die Europäer_innen streiten? An
beiden Abenden, für die das Rimini Protokoll den Rahmen steckte,
präsentierte sich Europa vor allem als ein von Apparat und Spielleiter
durchgetaktetes System, das wenige Debatten zulässt – durchaus übertragbar
auf die tatsächliche politische Situation der EU.
Doch vielleicht gibt es auch Gruppenkonstellationen, die sich über die
Spielstruktur hinwegsetzen. Schon allein, um das herauszufinden, lohnt es
sich, diesem Experiment beizuwohnen.
Und wie schmeckt er nun, der Kuchen Europa? Am ersten Abend mittelmäßig, zu
lange im Ofen gelassen, am zweiten auf den Punkt durchgebacken und schön
schokoladig.
17 May 2015
## LINKS
[1] /Weltklimakonferenz-als-Theaterstueck/!149550/
[2] /1/archiv/digitaz/artikel/
[3] http://www.homevisiteurope.org/
## AUTOREN
Marco Wedig
## TAGS
Theater
Europa
Performance
Rimini Protokoll
Theater
Zentrum für Politische Schönheit
Hamburg
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zusammenfassen.
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