| # taz.de -- Zweiter Weltkrieg im russischen Kino: Wohin mit dem Grauen? | |
| > Einen anderen Blick auf den Zweiten Weltkrieg suchen: „Bohnenstange“ von | |
| > Kantemir Balagow spielt in einer traumatisierten Stadt. Leningrad 1945. | |
| Bild: Die Farben umgeben sie mit einem Schutzmantel: Ija (Wiktoria Miroschnitsc… | |
| Das kleinformatige Schwarzweißfoto entwickelt einen irritierenden Nachhall. | |
| Es ist in einer Ausstellung der Berliner Akademie der Künste mit | |
| Fotografien der Agentur Ostkreuz zu sehen. Man sieht Menschen zu einem | |
| Nachbau des Berliner Reichstags spazieren, auf dessen Kuppel die | |
| sowjetische Fahne weht. Aufgenommen wurde es in diesem Jahr im sogenannten | |
| Patriot-Park in der Nähe von Moskau. Welche Bilder verbinden die | |
| Besucher*innen mit dem historischen Modell, das an die letzten Tage des | |
| Zweiten Weltkriegs erinnert? Welche Vergangenheit wird dort besichtigt? | |
| Welche Form der Geschichtspolitik wird hier betrieben? | |
| Auf russischen Kinoleinwänden feiern finanziell üppig ausgestattete Filme | |
| [1][den Großen Vaterländischen Krieg weiterhin als pathetische Erzählung | |
| und Heldenepos]. Doch seit einigen Jahren betreibt eine jüngere Generation | |
| russischer Regisseure eine andere Form der Geschichtsschreibung und macht | |
| damit auf internationalen Festivals auf sich aufmerksam. Der zur Propaganda | |
| erstarrten Historie ihres Landes ringt sie neue Erzählungen und andere | |
| Sichtweisen ab. | |
| Mit den unterschiedlichsten visuellen Strategien drücken die Filmemacher | |
| die Reset-Taste, versuchen den aufgeladenen Blick wieder in eine | |
| menschliche Perspektive zu bringen. Womöglich sind ihre Filme deshalb so | |
| radikal und verstörend, weil sie auf Augenhöhe von Soldatinnen und Soldaten | |
| erzählen und davon, was der Krieg mit und aus ihnen gemacht hat. | |
| Einer dieser Regisseure ist der 29-jährige Kantemir Balagow, Schüler von | |
| [2][Alexander Sokurow], einem der bedeutendsten Autorenfilmer der | |
| Gegenwart. Balagows zweite Regiearbeit „Bohnenstange“ spielt im | |
| herbstlichen Leningrad des Jahres 1945 gut anderthalb Jahre nach Ende der | |
| deutschen Belagerung. | |
| ## Aus der Welt gerissen | |
| Die Stadt und ihre Bewohner*innen scheinen noch immer benommen, | |
| erschüttert, aus der Welt gerissen, seltsam gedämpft ist die Stimmung auf | |
| den Straßen. Jeder scheint seines Weges zu gehen, doch wohin kann er führen | |
| im Nirgendwo des Traumas? | |
| Zwei junge Soldatinnen, die zurückhaltende Ija (Wiktoria Miroschnitschenko) | |
| und die impulsive Mascha (Wassilissa Perelygina), sind gerade erst von der | |
| Front zurückgekehrt und teilen sich Zimmer und Bett in einer | |
| Kommunalka-Gemeinschaftswohnung. In den Flur mit den vielen Türen und in | |
| die chaotische, von Geklapper erfüllte Küche will der Alltag mit aller | |
| Macht zurückkehren, aber er trifft auf keine Gegenwart. | |
| Die Zimmernachbarin, eine Näherin, bittet Mascha, ein grünes Kleid mit | |
| roten Applikationen für eine Kundin anzuprobieren. Plötzlich nimmt die | |
| junge Soldatin sich und ihre Körperlichkeit wieder anders wahr, ausgelassen | |
| beginnt sie, sich im Kreise zu drehen, bis sie irgendwann weinend | |
| zusammenbricht. Als sie wieder die Uniform trägt, baumeln die Orden | |
| scheinbar bedeutungslos an ihrer Brusttasche. | |
| Schließlich findet Mascha mit Hilfe von Ija ebenfalls eine Anstellung im | |
| Krankenhaus. Die zwei Frauen kümmern sich um schwerverletzte Soldaten, und | |
| an diesem Ort scheinen nur die physischen und sichtbaren Verletzungen zu | |
| zählen. Doch wer fängt Ija und Mascha auf? Wohin mit dem Grauen der Front, | |
| mit Erfahrungen, die die beiden so kurz nach Kriegsende noch nicht fassen | |
| können, die vielleicht noch für längere Zeit, womöglich sogar für immer | |
| unfassbar bleiben? | |
| ## Reportagen von Swetlana Alexijewitsch | |
| Kantemir Balagow entwickelte seinen Film nach der Lektüre von „Der Krieg | |
| hat kein weibliches Gesicht“, einem Buch der belarussischen | |
| [3][Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch]. Anfang der | |
| achtziger Jahre suchte die Autorin Frauen auf, die im Zweiten Weltkrieg | |
| Sanitäterinnen, Flakgeschützführerinnen, Scharf- und MG-Schützinnen gewesen | |
| waren, um deren Erinnerungen sprechen zu lassen. | |
| Die Erinnerung spricht in „Bohnenstange“ allein schon durch Ijas | |
| Erscheinung: Wegen ihrer irritierenden Größe und schlaksigen Gestalt wird | |
| sie von allen nur Bohnenstange genannt. Wenn sie im Krankenhaus mit den | |
| anderen Schwestern durch die Gänge eilt, wirkt sie wie ein Fremdkörper im | |
| Bild. Stets scheint es, als sei im Raum noch eine andere Geschichte | |
| präsent. | |
| Manchmal verfällt Ija in eine Art Schockstarre, von der ihre Umgebung kaum | |
| je Notiz nimmt. Stattdessen gehen etwa die Frauen in der Waschküche des | |
| Krankenhauses ihrer Tätigkeit weiter nach und setzen ungerührt ihre | |
| Unterhaltungen fort. Doch die Kamera bleibt bei Ija, ein Schatten legt sich | |
| über das mädchenhafte Gesicht mit den blonden Wimpern. Man weiß nicht, | |
| welche Bilder Ija in Beschlag nehmen, erahnt aber deren Wucht und Schmerz. | |
| Mascha, deren Sohn mitten im Kriegsgeschehen geboren wurde, hatte den | |
| kleinen Jungen in Ijas Obhut gegeben. Bei einem von Ijas Anfällen kommt es | |
| zu einem fatalen Unfall. Ija wird ihrer besten Freundin nach deren Rückkehr | |
| die wahren Hintergründe des Geschehens verschweigen, während Mascha von | |
| dieser eine Art „Schadensersatz“ verlangt. | |
| ## Ein Kind als Schadensersatz | |
| Sie soll statt ihrer ein Kind gebären, denn eine Kriegsverletzung hat sie | |
| unfruchtbar werden lassen. Nach und nach wird der Film zu einem Psychodrama | |
| über zwei Frauen, deren Schicksale untrennbar miteinander verknüpft sind. | |
| Der Schmerz zwingt sie zu Handlungen, die für sie selbst und die jeweils | |
| andere brutal und schrecklich sind, gleichzeitig verbindet diese Frauen | |
| auch Fürsorge, Zuneigung und Zärtlichkeit. | |
| Mit diesem so seltsamen wie emotional extremen Beziehungsgeflecht erzählt | |
| Balagow auch von der seelischen Versehrtheit seiner Heimat, von einem auf | |
| unvorstellbare Weise verwundeten Land. Es ist die aufmerksame Kamera, es | |
| sind die präzise choreografierten und ausgeleuchteten Bilder von | |
| „Bohnenstange“, die dem Leid und dem Leiden einen Rahmen und einen Raum | |
| geben. | |
| Das Zimmer der Frauen ist in warmen Farben gehalten, die sie wie ein | |
| Schutzmantel umgeben, erst so kann ihre unendliche Einsamkeit zum Vorschein | |
| kommen. Vor dem Wandteppich mit den bunten Mustern wirkt Ijas Gesicht noch | |
| blasser, noch kindlicher. | |
| Vielleicht lässt sich von manchen Verletzungen, die mehr als nur | |
| körperlicher Natur sind, nur erzählen, wenn man sie so genau und behutsam | |
| in Szene setzt. Friedlich wirkt die Stimmung im großen Gemeinschaftsbad der | |
| Frauen, man teilt sich das heiße Wasser und gießt es sich gegenseitig über | |
| den Rücken, eher beiläufig nimmt die Kamera die rote Narbe am unteren Bauch | |
| von Mascha wahr. | |
| ## Der Krieg als persönliches Erlebnis | |
| Im Krankenhaus wiederum kontrastiert Balagow den verletzten männlichen | |
| Körper mit der Verletzlichkeit eines kleinen Jungen: Patienten imitieren | |
| Tiere, die der etwa Zweijährige erraten soll. Er wirkt überfordert, | |
| erstarrt, später nimmt der Film seine Perspektive ein, nun sehen wir | |
| ebenfalls die Krücken, Verbände und einen im Bett regungslos liegenden | |
| Mann. | |
| Balagow verhandelt den Krieg als persönliches Erlebnis. Konsequent verharrt | |
| er in der Perspektive der Frauen und erfasst gerade dadurch das unfassbare | |
| Ausmaß und die allgegenwärtige Dimension. „Bohnenstange“ ist auch ein Film | |
| über Frauen, die versuchen, ihr Mensch- und Frausein wiederzuerlangen und | |
| zu behaupten. Mit seinen in sich ruhenden Bildern gibt er ihnen die dafür | |
| nötige Rückendeckung. | |
| Im Kino: „Bohnenstange“. Regie: Kantemir Balagow. Mit Wiktoria | |
| Miroschnitschenko, Wassilissa Perelygina u. a., Russland 2019, 137 Min. | |
| 22 Oct 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Anke Leweke | |
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