| # taz.de -- Ydessa Hendeles in der Kunsthalle Wien: Unwahrscheinliche Szenarien | |
| > Zeitgenössische Installationskunst in Wien: Ydessa Hendeles eindrückliche | |
| > Visualisierung der Dialektik sozialer Entwicklungen. | |
| Bild: Installationsansicht „Death to Pigs“ in der gleichnamigen Ausstellung… | |
| Kostbarkeiten sind hier wohl zu bestaunen, das legt das sorgsam auf die | |
| wenigen Objekte gebündelte Licht im sonst dunklen Raum nahe. Aber handelt | |
| es sich nicht eher um Sonderbarkeiten? Denn was bringt die übergroße, | |
| aufgeständerte Sicherheitsnadel mit der Maske eines kleinen Kindergesichts | |
| und dem schwedischen Teigrad auf dem alten Schanktisch aus Ulmenholz | |
| zusammen, den Ydessa Hendeles in England auftrieb, wo er ungefähr um 1740 | |
| gebaut wurde? | |
| Ydessa Hendeles ist eine zeitgenössische Installationskünstlerin, die mit | |
| unerwarteten antiquarischen Objekten arbeitet, wie der beschriebene Tisch | |
| zeigt, mit dem unter anderem ihre große Retrospektive in der Kunsthalle | |
| Wien eröffnet. Dank dieser Stücke geraten ihre Szenarien ebenso verwunschen | |
| wie eindrücklich. | |
| Doch während die Bilder, Objekte und Texte, die teils schon aus dem frühen | |
| 17. Jahrhundert stammen, ihren Arrangements eine entrückte Anmutung geben, | |
| bauen Hendeles’ kunstvolle Zusammenstellungen auf sorgfältigen historischen | |
| Recherchen auf. Sie sind daher ebenso sehr Forschung wie zeitgenössische | |
| Fabel. Und als solche thematisieren sie das moderne Kräftespiel zwischen | |
| Zugehörigkeit und Ausgrenzung. | |
| Mit dem Titel ihrer Ausstellung, „Death to Pigs“, bezieht sich die | |
| kanadische Künstlerin, Sammlerin und ehemalige Galeristin denn auch auf | |
| einen berühmten Fall des mörderischen Ausagierens von Gruppenidentität − | |
| den der Manson Family. „Death to Pigs“ lautete eine der mit dem Blut der | |
| Opfer an die Wand geschmierten Parolen, die die Polizei von Los Angeles | |
| nach den Morden an den Tatorten vorfand. | |
| Als Tochter von Holocaust-Überlebenden – 1946 in Marburg geboren, wohin | |
| ihre Eltern von Polen aus übersiedelten, bevor sie Anfang der 1950er Jahre | |
| nach Kanada emigrierten – ist Ydessa Hendeles selbst auf tragische Weise | |
| mit dem Wahnsinn rassistischer und tribalistischer Identitätskonzepte | |
| vertraut, die Holocaust und Völkermord bedeuten. | |
| ## Das Wundersame herbeschwören | |
| Machtdynamiken über Zuschreibungen und Stigmatisierungen, statt Toleranz | |
| und Aufklärung, sind nicht einfach in der Welt, sie werden erzeugt. Gerade | |
| wenn wir heute beobachten, wie ehemals fortschrittliche linke Konzepte | |
| plötzlich als reaktionäre rechte Praxis wiederkehren, faszinieren Ydessa | |
| Hendeles’ komplexe Visualisierungen zur Dialektik sozialer Entwicklungen. | |
| Das beginnt schon mit der Eingangsinstallation „Veronica’s Veil/Tigers’ | |
| Tale“ (2016–18), die in zwei Narrativen das Wundersame heraufbeschwört. | |
| Für die Erwachsenen ist das der Gesichtsabdruck Jesu und für die Kinder der | |
| Spaziergang des „kleinen schwarzen Sambo“ durch einen Dschungel voll | |
| hilfsbereiter Tiere. In dem kuriosen Arrangement von süddeutschen | |
| Holzschnitzereien des Schweißtuchs der Veronika, von Sicherheitsnadel und | |
| Teigrad sowie von zwei Erstausgaben von Helen Bannermans „The Story of | |
| Little Black Sambo“ unter einem Glassturz, wird den Erzählungen allerdings | |
| ihre Autorität streitig gemacht. Im Fall des schwarzen Sambo wird die | |
| rassistische Färbung, der im Selbstverständnis der Autorin wohlwollend | |
| gemeinten Geschichte, aufgedeckt. | |
| Eher illustrativ ist dagegen „Blue Beard“ (2016), mit sechs antiken | |
| Schlüsseln, einer männlichen und einer weiblichen Gliederpuppe samt dem | |
| siebten Schlüssel im Schaukasten. Hier ist der Clou eher von sammlerischem | |
| Interesse, insofern der abgetrennte Kopf, den die siegreiche Braut unter | |
| dem Arm trägt, ein zweiter identischer Kopf zu dem ist, den die männliche | |
| Gliederpuppe auf hat. | |
| Doch dann stößt man rasch zum Höhepunkt im Untergeschoss der Kunsthalle | |
| vor, den rund 150 Holzgliederpuppen der Installation „From Her Wooden | |
| Sleep“ (2013). Der Titel entstammt dem 1895 erschienenen | |
| Bestseller-Kinderbuch „The Adventure of Two Dutch Dolls and a ,Golliwogg'“ | |
| von Bertha und Florence Kate Upton, von dem gleich vier Exemplare beim | |
| Eingang in den Raum ausgelegt sind. | |
| Die von Bertha, der Mutter, erzählte und von Florence Kate, der Tochter, | |
| illustrierte Geschichte von den nächtlichen Abenteuern zweier Holzpuppen an | |
| Weihnachten, sorgte vor allem wegen des Golliwoggs, des ersten schwarzen | |
| Protagonisten in einem englischen Bilderbuch, für Furore. Ursprünglich war | |
| die Figur mit den struppigen Haaren, den roten Lippen und dem schwarzen | |
| Gesicht gar nicht als der Held der Geschichte gedacht, aber seine | |
| Popularität bei den Kindern führte dazu, dass eine Golliwogg-Serie von | |
| insgesamt 13 Bücher entstand. | |
| ## Ein ritterlicher schwarzer Gentleman | |
| Dabei waren Mutter und Tochter Upton sich der Möglichkeit bewusst, mit | |
| ihrer Serie erzieherisch zu wirken, und gestalteten den Golliwogg als | |
| ritterlichen Gentleman und seine zwei Begleiterinnen als kluge, aufgeweckte | |
| junge Puppendamen, die sich für die neuesten Erfindungen wie Fahrräder, | |
| Heißluftballons genau so interessierten wie für Nordpol-Expeditionen und | |
| den Spanisch-Amerikanischen Krieg. | |
| Zum aufgeklärten Verhalten der Puppen in Geschlechts- und Rassefragen kam | |
| hinzu, dass sie keiner Nationalität angehörten und vielmehr vergnügte | |
| Weltbürger waren. Letzteres lässt sich von den sie umgebenden | |
| Holzgliederpuppen aus der Zeit zwischen 1520 bis 1930, die einst als | |
| Kinderspielzeug, Schneiderutensil und für Proportions- und | |
| Bewegungsstudien in der bildenden Kunst Verwendung fanden, nicht sagen. | |
| Streng auf Schulbänke gereiht, starren sie blind vor sich hin. Fast meint | |
| man, sie stünden für die vom Nationalismus des Ersten Weltkriegs und der | |
| Nachkriegszeit geprägte makabre Verwandlung, die Golliwogg erfuhr. Sein | |
| Name wurde nun zu einem herabsetzenden Begriff für Menschen nichtweißer | |
| Haut. Florence Upton, die kein Patent auf ihr Geschöpf angemeldet hatte, | |
| musste diese Entwicklung hilflos mitansehen. Ausgeliefert, hilflos, fühlt | |
| man sich auch als BetrachterIn, die sich inmitten dieses machtvoll, eng und | |
| bedrängt aufgestellten Puppenheeres zurechtzufinden sucht. | |
| Ganz anders erlebt man dann das großzügige und weitläufige Arrangement mit | |
| fünf weiteren Arbeiten im Obergeschoss. Mit nur vier Schwarz-Weiß-Drucken | |
| und einem Spielzeughund inszeniert „The Dead Jumbo“ (2011) das fatale | |
| Schicksal des afrikanischen Elefantenbullen mit Namen Jumbo, dessen | |
| Lebensweg ihn von Afrika aus über Paris und London nach New York führte. | |
| Er war im 19. Jahrhundert ein erster tierischer Superstar, auf dem als | |
| Kinder sowohl Winston Churchill als auch Theodor Roosevelt geritten waren | |
| und der schließlich infolge einer Kollision mit einer Lokomotive in der | |
| amerikanischen Provinz starb. Indem sein Name für unübertroffene Größe | |
| steht, verweist „Dead Jumbo“ auch auf das größte systematisch verordnete | |
| Vernichtungsprogramm der Weltgeschichte. | |
| ## Gefährliche Perfektion der Bilder und Metaphern | |
| Daran schließt „Marburg! The Early Bird“ (2008–16) an, eine Installation, | |
| die der Frage nachgeht, wie wir einen Platz in der Welt finden und ihn | |
| behaupten, auch gegen einen Kontext aus Kultur, Nation und Tradition, der | |
| dafür scheinbar keinen Raum gibt. | |
| Diesen Raum schafft Ydessa Hendeles nun unter anderem mit Memorabilia aus | |
| der Universitätsstadt Marburg, in der die Nazis 1933 fast 60 Prozent der | |
| Stimmen erhielten: Dazu gehört Blechspielzeug der Firma Karl Bub aus | |
| Nürnberg, ein übergroßes Buchmodell nach Gustave Dorés „Der Gestiefelte | |
| Kater“ von 1862 und ein übergroßes Pincenez. | |
| Hier wie in „The Bird that Made the Breeze to Blow“ (2006–11) überwälti… | |
| nicht einfach ein wilder, überbordender Einfallsreichtum der | |
| Zusammenstellungen, sondern es überzeugt gerade die Sorgfalt, mit der die | |
| historischen, psychologischen und symbolischen Tiefenschichten der | |
| fantastischen Arrangements ausgelotet und − ganz aktuell − in QR-Codes | |
| dokumentiert werden. | |
| Durch die Perfektion der Bilder und Metaphern sowie die Schönheit der | |
| Objekte fürchtet man freilich auch ein Abirren ins Kunstgewerbliche. Doch | |
| dann bleibt Ydessa Hendeles mit dem grausamen Video zur industriellen | |
| Tötung von Hausschweinen in „Death to Pigs“ (2015–16) auf dem Weg der | |
| zeitgenössischen Kunst. | |
| 14 Mar 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Brigitte Werneburg | |
| ## TAGS | |
| zeitgenössische Kunst | |
| Installation | |
| Malerei | |
| BDI | |
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