# taz.de -- XXII. Winterspiele in Sotschi: Steinzeit in Achschtyr | |
> „Grüne Spiele“ sollen im russischen Sotschi stattfinden. Aber es werden | |
> Flüsse und Wälder zerstört. Und das Dorf Achschtyr ist von der | |
> Zivilsation abgeschnitten. | |
Bild: Früher gab es eine Brücke über das Tal, die der neuen Straße weichen … | |
SOTSCHI taz | Rumms. „Als wir erfuhren …“ Rumms. „… die Olympischen S… | |
hier stattfinden …“ Rumms. „… gejubelt. Wir dachten, jetzt …“ Rumms… | |
endlich die Zivilisation hierher …“ Rumms. „… Kanalisationen, Straßen … | |
Rumms. „Es kam nichts.“ | |
Außer Lkws. Alle paar Sekunden brettert einer an Alexander Karokow vorbei | |
den Berg hinauf. Alle paar Sekunden brettert einer den Berg hinunter. Auf | |
der Höhe, auf der Karokow gerade steht, sind die schweren Straßenplatten | |
auseinander gedriftet. Hier ein Kontinent namens Straße, dort ein Kontinent | |
namens Straße. Dazwischen der Ozean „Schlagloch“. Den muss jeder Laster | |
queren. Rumms. | |
Bei jedem Knall denkt man, dass bei den alten, mit Steinen beladenen Wagen | |
gleich die Achse bricht, ein Reifen sich löst und allein Richtung Tal | |
abhaut. Karokow achtet beim Reden gar nicht darauf. Der Mensch scheint sich | |
an alles zu gewöhnen. | |
Dabei will Karokow sich gar nicht an all den Lärm, Dreck, die | |
Erschütterungen, den Staub gewöhnen. Er hat die Ärmel seines gelben | |
Rollkragenpullovers hochgekrempelt. Er wollte, dass es besser wird hier in | |
Achschtyr. Er wollte die Spiele. Er wollte eine Wasserleitung. | |
## Der Brunnen ist ausgetrocknet | |
Stattdessen kommt einmal pro Woche ein Tanklaster und bringt den 200 | |
Einwohnern des kleinen Dörfchens nahe Sotschi Wasser. Vor ein paar Wochen | |
war er ausgefallen, 14 lange Tage mussten sie auf Nachschub warten. Früher | |
gab es einen Brunnen, erzählt Karokow, doch die Steinbrüche haben den | |
Grundwasserpegel gesenkt. Der Brunnen ist trocken. | |
Früher gab es auch eine Brücke über das Tal zur alten Schnellstraße | |
Richtung Sotschi. Doch die Brücke musste der neuen Bundesstraße weichen. | |
Die Kinder müssen nun drei Kilometer zur Haltestelle des Schulbusses | |
laufen. Ein gewöhnlicher Linienbus fährt dort aber nicht. Die Erwachsenen | |
müssen sieben Kilometer zur nächsten Haltestelle wandern, um in die Stadt | |
zu fahren. Zum Arzt oder zum Einkaufen. | |
Das einzige, was Achschtyr durch die Spiele bekam, sind zwei riesige | |
Steinbrüche – deswegen die vielen Lkws – und eine Bundesstraße, die den O… | |
von der Außenwelt abschneidet. | |
## Die Lkws stehen Schlange | |
17 Bewohner haben sich mittlerweile am Straßenrand versammelt. Viele haben | |
früher an den Hängen Obst und Gemüse angebaut und damit ein bisschen etwas | |
verdient. Doch heute liegt auf den Blättern und Früchten so viel Staub, | |
dass ihn niemand mehr abwischen kann – und sie keiner mehr kaufen will. | |
„Wir wissen, dass wir im 21. Jahrhundert leben“, sagt Tatjana Wilikaja, | |
„aber hier ist es wie in der Steinzeit.“ | |
Die 61-Jährige nimmt uns mit und zeigt uns die Steinzeit von Achschtyr. Wir | |
müssen über Stacheldraht steigen, um den Krater zu erblicken, der in den | |
Berg gehauen wurde. Er ist geschätzt 15 Meter tief und bestimmt so groß wie | |
ein Fußballfeld. Und das ist nur der stillgelegte Teil. Drüben, in der | |
Kurve, liegt der zweite Steinbruch, doppelt so groß und viel tiefer. Dort | |
wird noch gehämmert. Hier also ist der Quell all des Staubs, des Lärms, der | |
Erschütterungen, der Lkws. Die stehen Schlange und warten auf die nächste | |
Ladung Steine, mit der sie dann durch Tatjana Wilikajas und Alexander | |
Karokows Dorf brettern können. | |
„Eine Katastrophe“, nennt der Umweltschützer Wladimir Kimajew die | |
Ausbeutung des Bergs. Im stillgelegten Steinbruch werde weiterhin Bauschutt | |
abgeladen. Er hat Angst, dass Gifte in den Boden sickern. „Das hier ist ein | |
Nationalpark.“ | |
Das hier war ein Nationalpark. Der schützenswerte Status wurde dem Gebiet | |
handstreichartig entzogen. Seit vier Jahren wird Stein um Stein abgetragen. | |
Tag und Nacht. Jetzt sieht es hier so aus, als seien zwei Meteoriten in | |
Achschtyr eingeschlagen. | |
## Die Intelligenzja guckt weg | |
Kimajew ist in der Nichtregierungsorganisation „Zum Schutz des kaukasischen | |
Gebirges“ engagiert. Besser gesagt: Er ist die Nichtregierungsorganisation. | |
Eine deutsche Website, die für Urlaub in Sotschi wirbt, bezeichnet | |
Achschtyr noch immer als „Naturdenkmal“. „Die meisten wissen einfach nich… | |
was hier passiert“, sagt der drahtige Mann mit der Glatze. Viele in Sotschi | |
seien Rentner, Internet kennen sie nicht, oppositionelle Meinungen auch | |
nicht. Und die „Intelligenzja“, wie Kimajew die nennt, die es besser wissen | |
müssten – die Lehrer, die Ärzte, die Professoren – „die sind vom Staat | |
abhängig, die sagen alle, dass die Olympischen Spiele super sind.“ | |
Und die Vertreter der Stadt leugnen das Problem einfach. | |
Im Rathaus von Sotschi steht Zhanna Gregoriewa vor einem gemalten Panorama | |
des Kaukasus. Oben Schnee, unten Segelboote im Schwarzen Meer. An die Küste | |
schmiegt sich der mehr als 140 Kilometer lange Ort Sotschi mit seinen | |
Olympiastadtteilen Adler (am Meer) und Krasnaja Poljana (in den Bergen). | |
Dazwischen liegt Achschtyr. | |
## Bäume im Sumpf | |
Gregoriewa ist die Olympiabeauftragte der Stadt. Die kleine Frau mit den | |
roten Haaren, großen Augen und stechendem Blick hat sich Zettel mit | |
Antworten ausgedruckt. Sie wird nicht einmal darauf gucken. Sie nennt | |
Sotschi 2014 die „grünen Spiele“. | |
Die Kompensationsmaßnahmen überträfen die Nachteile für die Umwelt | |
deutlich, sagt Gregoriewa, das habe das Internationale Olympische Komitee | |
gerade erst festgestellt. „Für alle Bäume, die gefällt werden, sind | |
woanders Bäume gepflanzt worden.“ | |
Grüne Spiele? Umweltaktivist Kimajew würde wohl laut und höhnisch lachen, | |
wenn er der Typ wäre, der lachen würde. „Ich weiß nicht, was die damit | |
sagen wollen“, erzählt er am Rande des Steinbruchs. Früher habe es | |
innerhalb der Stadtgrenzen des Kernortes Sotschi 30 Quadratmeter Grünfläche | |
pro Einwohner gegeben, heute seien es noch drei. In den Flüssen wurden die | |
Orte zerstört, wo die Lachse laichen. | |
Es habe auch mal einen natürlich gebildeten Strand aus Felsen und Sand | |
gegeben, doch der sei den Umbaumaßnahmen zum Opfer gefallen. Und der | |
kolchidische Wald ist auch zerstört worden. „Dafür wurden irgendwo im Sumpf | |
Palmen aus Italien gepflanzt. Das ist doch keine Kompensation“, sagt | |
Kimajew. Er hat sich vor ein paar Monaten das Gelände mit den neu | |
gepflanzten Bäumen angeschaut. Nur vereinzelte Setzlinge hätten überlebt, | |
sagt er, „die meisten sind verkümmert“. | |
## Statt „Sotschi 2014“ prangt hier „Gazprom 2014“ | |
Oberhalb von Achschtyr gibt es einen Lift, der zur ersten Bergstation | |
führt, von dort aus geht es mit dem Bus weiter zum Langlauf- und | |
Biathlonstadion „Laura“. 7.500 Zuschauer sollen hier bei den Spielen Platz | |
finden. Zum ersten Mal in der olympischen Geschichte werden die | |
Biathlonwettbewerbe abends unter Flutlicht starten. Andrej Markow ist | |
mächtig stolz auf diese, seine Anlage. Er ist der Sprecher von „Laura“. | |
Jede Halle, jedes Stadion hat einen eigenen Sprecher. Wie viel hat das | |
alles gekostet? „Das ist keine Frage an mich, das ist eine Frage an | |
Gazprom“, sagt Markow. Der russische Energieriese hat all das gebaut, | |
inklusive der großen Liftstationen. Hier hängt kein einziges „Sotschi | |
2014“-Banner, hier prangt überall nur „Gazprom 2014“. Warum baut der | |
Konzern sowas? „Gazprom liebt Biathlon“, sagt Markow. | |
Vor vier Jahren stand hier nichts außer Bäumen, berichtet Markow. Auch das | |
sei schließlich Teil eines Nationalparks. Jetzt erstreckt sich hinter ihm | |
eine 120 Meter lange Freifläche, auf der bald ein paar Biathleten | |
rumballern werden und die aussieht wie ein Parkplatz mit angeschlossener | |
Tribüne. „Wenn du was baust, musst du immer ein paar Bäume abholzen. Aber | |
nur so entsteht etwas Neues“, sagt Markow. „Natürlich entschuldigen wir uns | |
dafür.“ Er lächelt verschmitzt. | |
„Ich sehe keine negative Seite“, sagt Zhanna Gregoriewa unten im Tal, im | |
Konferenzraum des Rathauses. Die überwältigende Mehrheit der Menschen in | |
Sotschi freue sich auf die Spiele. | |
Auch Umweltaktivist Kimajew freut sich. Denn bald ist wenigstens der | |
ständige Baulärm vorbei. Der Steinbruch in Achschtyr soll dann ruhen, und | |
angeblich soll das auch anschließend so bleiben, doch den Versprechungen | |
glauben Alexander Karokow und Tatjana Wilikaja nicht. Sie haben momentan eh | |
andere Sorgen, sie müssen sich Gedanken machen, wie sie über den Winter | |
kommen. Für die Zeit der Olympischen Spiele wurde ihnen nämlich das Heizen | |
mit Brennholz untersagt. „Doch eine Heizung haben wir nicht“, sagt | |
Wilikaja. | |
21 Dec 2013 | |
## AUTOREN | |
Jürn Kruse | |
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