| # taz.de -- Widerstand gegen Putins Herrschaft: Der Mut der Chancenlosen | |
| > Es geht beim Ukraine-Krieg nicht nur um Kosten-Nutzen-Rechnungen. Eine | |
| > Hommage an die Menschen, die nicht kapitulieren wollen. | |
| Bild: Die TV-Journalistin Marina Owsjannikowa protestierte öffentlich gegen de… | |
| Für fünf Sekunden Antikriegsprotest im russischen Staatsfernsehen wird die | |
| Journalistin Marina Owsjannikowa womöglich mit fünf Jahren Gefängnis | |
| bezahlen. Vielleicht werden es auch 15 Jahre. [1][Ihr Aufschrei gegen | |
| russische Propaganda könnte auch tödlich enden, mit einem „Autounfall“, w… | |
| sie selbst befürchtet.] Auf jeden Fall wird ihr Leben – und das ihrer | |
| beiden Kinder – nie wieder normal sein. War es das wert? Nach einer kühlen | |
| Kosten-Nutzen-Rechnung eher nicht. Putins Kriegspropaganda flimmert weiter | |
| über die Bildschirme. Doch was wäre die Welt ohne Menschen wie | |
| Owsjannikowa? Ohne den Mut der Chancenlosen? | |
| Wenn es nach dem Philosophen [2][Richard David Precht ginge, sollte der | |
| ukrainische Präsident Wolodimir Selenski so bald wie möglich kapitulieren]. | |
| Warum kämpfen, wenn man angesichts der militärischen Überlegenheit | |
| Russlands ohnehin verlieren werde? Könnte man nicht zahllosen Menschen viel | |
| Leid ersparen und Tausende Leben retten, wenn man so schnell wie möglich | |
| aufgeben würde? Aus pazifistischer Perspektive entbehrt Prechts Forderung | |
| nicht einer gewissen Logik. Je länger der Krieg andauert, desto mehr Tote | |
| wird es zu beklagen geben. | |
| Wenn man [3][nur die Zahlen des militärischen Geräts und der Soldaten] auf | |
| russischer Seite betrachtet, könnten die Ukrainer das Aufbäumen gegen | |
| Putins Imperialismus gleich sein lassen. Die Übermacht ist offensichtlich. | |
| Doch ginge es allein um das Gegenrechnen von Panzern, Raketen und Truppen, | |
| würden Mathematiker Krieg führen. Die Realität gestaltet sich komplexer, | |
| besonders wenn die betroffenen Menschen um ihre Existenz fürchten. | |
| Für die Ukraine geht es um alles; um ihr Fortbestehen als Staat, um die | |
| eigene Identität, Selbstbestimmung und ja, auch um Freiheit und Demokratie. | |
| Manche mögen es nationalistisch finden, dass die Ukrainer nicht in einem | |
| neosowjetischen Putin-Reich aufgehen wollen. Und natürlich würden wir uns | |
| in einer idealen Welt nur noch als Erdenbürger verstehen, die sich allein | |
| um das Wohlergehen des Planeten und seiner Lebewesen kümmerten – ganz ohne | |
| die eigennützigen Interessen einzelner Staaten. | |
| ## Israelisierung statt Finnlandisierung | |
| Fernab dieser Zukunftsutopie aber ist es der Mut der Chancenlosen, der | |
| Owsjannikowas, Selenskis und Klitschkos, der die Welt bewegt. Oder sollte | |
| man vielleicht sagen: der vermeintlich Chancenlosen? Precht hat in seiner | |
| großen Weisheit außer Acht gelassen, dass durchaus nicht alle gescheitert | |
| sind, die eigentlich keine Chance hatten. Nehmen wir ein Land, auf das | |
| manche Ukrainer bereits als Vorbild blicken: Israel. Als David Ben-Gurion | |
| am 14. Mai 1948 die israelische Unabhängigkeitserklärung verlas, erklärten | |
| noch in derselben Nacht Ägypten, Saudi-Arabien, Jordanien, Irak, Syrien und | |
| der Libanon dem jungen Staat den Krieg. | |
| Precht hätte wohl auch damals nur empfehlen können zu kapitulieren. Die | |
| israelische Armee war kaum mehr als ein zerlumpter Haufen ehemaliger | |
| Widerstandskämpfer. Doch sie hatte den Mut der Verzweiflung. Verlieren war | |
| nach dem Holocaust keine Option, nicht 1948 und nicht im Jom-Kippur-Krieg | |
| von 1973, der auch anders hätte ausgehen können. Heute ist Israel bis an | |
| die Zähne bewaffnet. Es wäre schon sehr verwunderlich, wenn die Ukrainer | |
| nicht eher eine Israelisierung als eine Finnlandisierung anstreben würden. | |
| Wie die Israelis haben sie in diesem Krieg gelernt, dass sie im Zweifel auf | |
| sich allein gestellt sind. | |
| Politischer Mut ist aber auch dann bewundernswert, wenn er scheitert. | |
| Vielleicht gerade dann. Die französische Résistance, die Geschwister | |
| Scholl, der Aufstand im Warschauer Ghetto – man hätte es auch lassen | |
| können, wenn man politisches Handeln nur an den Erfolgsaussichten misst. | |
| Doch die Menschen, die diesen Mut aufbrachten, werden zu Recht bewundert. | |
| Hätte man selbst das Zeug dazu, sich wie Marina Owsjannikowa, Alexei | |
| Nawalny oder Selenski einem Diktator in den Weg zu stellen? Man wünscht es | |
| sich, genauso wie man sich erhofft, dass der Bundeskanzler und sein | |
| Kabinett ein klein wenig von dem Mut hätten, den die Regierungschefs von | |
| Polen, Tschechien und Slowenien gezeigt haben, als sie diese Woche aus | |
| Solidarität mit der Ukraine mitten durchs Kriegsgebiet nach Kiew reisten. | |
| 19 Mar 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.spiegel.de/ausland/russland-interview-mit-tv-journalistin-marin… | |
| [2] https://lanz-precht.podigee.io/29-ausgabe-achtundzwanzig | |
| [3] /Konflikt-mit-Russland/!5828825 | |
| ## AUTOREN | |
| Silke Mertins | |
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