| # taz.de -- Westliche Arroganz: Ein Fall von Westsplaining | |
| > Belehrend und historisch unsensibel: Was der Krieg in der Ukraine über | |
| > deutsche Denkweisen verrät. | |
| Bild: Luhansk in der Ukraine im April 2022 | |
| Sehr angenehme Menschen. Sehr kooperative Behörden“ – so lautete Friedrich | |
| Merz’ Urteil über [1][die Ukraine], das er Anfang Mai aus dem Nachtzug auf | |
| seiner Reise nach Kiew twitterte. Diese Betonung lässt auf das Bild | |
| schließen, das der Absender von der Ukraine vor Reiseantritt hatte: das | |
| gegenteilige oder wahrscheinlich gar keins. Vielleicht war es auch eine | |
| Spitze gegen den ukrainischen Botschafter Melnyk, der im [2][deutschen | |
| Diskurs] durch seine direkte Wortwahl und Forderungen wahlweise als | |
| „untragbar“ oder gar als „Nazi-Versteher“ betitelt wird. | |
| Überhaupt scheinen wir Deutschen gerne Länder verstehen zu wollen. Wussten | |
| Sie, dass das Wort „Putin-Versteher“ mittlerweile ins Englische Eingang | |
| gefunden hat? Leider scheitern wir allzu oft daran, diesem Wunsch nach | |
| Erkenntnis eine gewisse Portion Selbstreflexion angedeihen zu lassen. Wir | |
| verlieren uns darin, auf aktuelle Bedrohungen mit einseitigen | |
| kulturhistorischen Erklärungen zu reagieren, die letztlich darauf abzielen, | |
| die eigene Passivität zu rechtfertigen. | |
| Das funktionierte auch schon in den 1990ern während der Jugoslawienkriege | |
| erstaunlich gut: Der politische und intellektuelle Diskurs jener Zeit | |
| stellte die Region als brutalen und unzivilisierten Vorhof Europas dar und | |
| versuchte so – unbewusst oder nicht – dem Krieg eine kulturhistorische | |
| Deutung zu geben. Zwei Konzepte, die damals wie heute benutzt wurden, sind | |
| Othering und Westsplaining. | |
| Beides sind nicht nur abstrakte Begriffe, sie wecken vor allem Emotionen | |
| bei denen, die damit zum Objekt werden: Othering meint das Beschreiben von | |
| Eigenschaften einer Gruppe als andersartig. Die Kategorisierung dient der | |
| Aufrechterhaltung der stärkeren Position jener Gruppe, die das Urteil | |
| fällt. Sozusagen die kulturtheoretische Erklärung für den moralischen | |
| Fingerzeig „Die waren schon immer so“. Wie schnell sich damals die | |
| Berichterstattung in Klischees über die „halbbarbarischen“ Völker verlor, | |
| zeigt Maria Todorova in ihrem Buch „Die Erfindung des Balkans. Europas | |
| bequemes Vorurteil“. | |
| Im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine wird oft von der historischen | |
| Verflochtenheit mit Russland gesprochen. Das ist per se nicht falsch, nur | |
| wird hierbei oft unhinterfragt das Kalte-Kriegs-Narrativ der Bruderstaaten | |
| übernommen und den Nationen eine emotionale Verbundenheit angedichtet, aus | |
| der sich für die Staaten des Westens ableitet: Besser nicht eingreifen, die | |
| regeln das schon unter sich. | |
| Nach einer [3][friedlichen Kriegslösung zu rufen] ist leicht, wenn man | |
| selbst in Frieden leben kann. Hier kommt Begriff Nummer zwei, | |
| Westsplaining, ins Spiel. „Ihr habt keine Ahnung von Russland“, schrieb der | |
| polnische Schriftsteller Szczepan Twardoch zuletzt in der NZZ: Die Länder | |
| Mitteleuropas blicken auf eine leidvolle, von Gewalt geprägte Geschichte | |
| mit Russland zurück. Polen plädierte schon früh für die aktive | |
| Unterstützung der Ukraine – erfolglos. Stattdessen werden hierzulande | |
| prorussische Narrative vornehmlich von einer politischen und | |
| intellektuellen Generation geschaffen, die von Gorbatschows Politik der | |
| Annäherung geprägt wurde. Manche reden sogar vom Krieg „um“ die Ukraine, | |
| was die Verhandelbarkeit der ukrainischen Souveränität suggeriert und den | |
| „legitimen russischen Ansprüchen“ auf das Territorium gefährlichen | |
| Nährboden gibt. | |
| Die deutsche Vergangenheit ist ein Grund, weshalb die deutsche Regierung | |
| auf militärische Forderungen zurückhaltend reagierte. Aber genau diese | |
| Vergangenheit sollte uns auch Anlass geben, unsere Haltung den östlichen | |
| Nachbarstaaten gegenüber zu überdenken. Neben der systematischen | |
| Zerstörung und Ermordung der jüdischen und polnischen Bevölkerung während | |
| des Zweiten Weltkriegs trug Deutschland dazu bei, Polen für 123 Jahre von | |
| der europäischen Landkarte verschwinden zu lassen. Wie muss es sich für | |
| Pol*innen anfühlen, heute in Sicherheitsbedenken nicht ernst genommen zu | |
| werden? Oder für Ukrainer*innen, wenn deutsche Politiker*innen mahnen, | |
| doch bitte den richtigen Ton zu treffen? | |
| Westsplaining meint also auch die historische Ignoranz, die mit einem | |
| Überlegenheitsgefühl einhergeht, moralisch wie politisch das einzig | |
| Richtige zu tun. Insbesondere das Verhältnis zu den Visegrád-Staaten | |
| Slowakei, Tschechien, Polen und Ungarn ist fragiler denn je. Auf | |
| politischer Ebene wird von einer „Gefahr aus der Mitte Europas“ gesprochen | |
| oder der mafiös anmutenden „Visegrád Connection“. Ungarns Nähe zu Russla… | |
| wird selbst von seinem engsten Verbündeten, Polen, scharf kritisiert. Aber | |
| wenn im Streit über das Ölembargo die „Tagesschau“ Zugeständnisse von Or… | |
| als „Zähmung des Widerspenstigen“ bezeichnet, ist das an Arroganz nicht zu | |
| überbieten und verrät viel über das westliche Bewusstsein über seine | |
| Vormachtstellung in Europa. Einen Regierungschef zähmen? Man muss kein | |
| Orbán-Fan sein, um festzustellen, wie diskriminierend diese Wortwahl ist. | |
| Fragwürdige Narrative sind keineswegs auf die Politik beschränkt: Literatur | |
| und Serien reproduzieren verklärte Bilder eines Ostens, die westliche | |
| Sehnsüchte nach Ursprünglichkeit bedienen. Auch administrativ gibt es | |
| Schulungsbedarf: In einem deutschen Pass westpolnische Geburtsorte mit | |
| ihrem heutigen Namen eintragen zu lassen, ist ein Problem. Die Deutsche | |
| Bahn bringt einen im Jahr 2022 noch nach Neustadt (Westpreußen). Absurd, | |
| wenn man bedenkt, dass die Stadt seit 1945 Wejherowo heißt. | |
| Der tschechische Schriftsteller Milan Kundera beschrieb 1986 die Tragödie | |
| Mitteleuropas in seinem gleichnamigen Essay: Eingezwängt zwischen | |
| Deutschland und Russland „blieben sie (die Länder) der am wenigsten | |
| bekannte und zerbrechlichste Teil des Westens“. Berichterstattung und | |
| [4][politische Entscheidungsträger*innen] würden gut daran tun, den | |
| benannten Ländern auf Augenhöhe zu begegnen und endlich mit dem Aufdrängen | |
| der eigenen Sichtweise aufzuhören. | |
| 31 May 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Elisa-Maria Hiemer | |
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