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# taz.de -- Weinkater und die Stadt: Endstation „Zum Langen Jammer“
> Das Kiezleben in Berlin verändert sich, Stück für Stück. Das Wochenende
> ist eine gute Gelegenheit, darauf einen Blick zu werfen.
Bild: Wohin Wege führen können
Diesen Samstagabend entwickelt sich, das ist nichts allzu Ungewöhnliches,
die Schwere unserer Gesprächsthemen parallel zum Weinkonsum hin zu einer
Klimax. Wer hat ein [1][Date am Valentinstag]? Geht’s euch gut? Welches
Gewächs ist man laut keltischem Baumhoroskop? Und weiter: Ziehen wir
irgendwann raus aus [2][Berlin]? Wo ist die Welt denn in Ordnung? Ab
welchem Preis drohen Ideale käuflich zu werden?
Ich habe kein Date am Valentinstag. Und ich bin eine Zypresse. Auf die
anderen Fragen habe ich keine Antworten, aber ich rede trotzdem die ganze
Zeit irgendetwas.
Der Ringbahnwaggon, der mich nach Hause bringt, dient einer Gruppe
Jugendlicher zum Transport einer klirrenden Ration von Kaltgetränken, für
die wohl sehr viel Taschengeld dran glauben musste. Einer der Jungs
schlendert zu mir, um nach Filtern zum Zigarettendrehen zu fragen.
Weil drei Uhr morgens keine angenehme Uhrzeit für gut gemeinte
Moralpredigten ist, schütte ich ihm einfach die Hälfte meiner Packung in
die Hände. „Oh, wie toll!“, strahlt er mich freundlich an. Es tut mir leid,
dass er und seine Freunde morgen tierische Kopfschmerzen haben werden.
„Du bist eine Amateurin“, geht es mir an besagtem nächstem Morgen durch den
Kopf, als ich selbst welche zu beklagen habe. Raus, frische Luft, Sonne
abholen. Sonntag ist traditionell Flohmarkttag. Auch am Boxhagener Platz,
zu dem mich meine Suche nach einem Kaffee führt. Hier haben sich viele
Menschen zwischen überquellenden Essenständen, aufeinandergestapelten
Möbeln, Blumenkästen und mit Töpfergeschirr beladenen Tischen zum Gucken
und Kaufen verabredet.
Sie sehen auf eine seltsame Art und Weise gleichzeitig sehr gut und sehr
ähnlich aus. Man könnte deshalb meinen, aus Versehen auf einer
Open-Air-Modenschau gelandet zu sein, würden nicht in kurzen
Zeitabschnitten die Schnäppchen des Tages verrufen werden.
Leider ist meine Zündschnur, die zwischen Entspannung und Ungeduld
verläuft, heute kürzer als gedacht. Mit 0,02km/h durch die Menschenmasse zu
trotten ist daher das Beste, wogegen ich mich heute entscheiden kann, um
mir nicht die Laune zu vermiesen, denke ich.
Durch einen Korridor von Trödlern quetsche ich mich auf einen umliegenden
Gehweg, ich lande vor einer neuen Bäckerei. Die Fensterrahmen sind frisch
lackiert, die Scheibe weist keine Spur eines Kratzers auf. Seit der
[3][pandemischen Notlage] sind viele altbekannte Läden Neueröffnungen wie
dieser gewichen. Mein Blick verfängt sich an der Angebotskarte, die am
untersten Ende der bloß siebenstelligen Auflistung selbstbewusst „Brötchen
– 1“ ausschildert. Ein Euro – für ein Brötchen, ernsthaft?
Meine Laune ist nun doch im Keller. Entschlossen, den Rest des Tages
abseits von Gewusel umhüllt von einer warmen Decke aus schlechten
TV-Formaten zu verbringen, bemühe ich mich um die Rekonstruktion des
gestrigen Gesprächsteils über alternative Wohnorte. War da etwas Gutes
dabei?
Die Frage nach dem Weg, den diese Stadt einschlägt, pocht in meinem Kopf.
Und dann muss ich an ein Straßenschild aus dem Nordkiez Friedrichhains
denken.
Denn unweit von hier gibt es eine Wohngegend, die mit einschläfernd gleich
aussehenden Linien von Reihenhäusern asphaltiert ist. Ihre Fassaden sind in
einer beschämenden Farbauswahl aus dem unspektakulären Spektrum zwischen
Weiß und Hellgrau getönt. Einmal habe ich dort eine glatt gekämmte Katze in
den minimalistischen Vorgärten auf Fliegenjagd gehen sehen. Etwas
Spannenderes kann ich über diesen Ort nicht berichten, aber vielleicht
wissen Sie ja mehr.
Jedenfalls, inmitten dieser Anreihungen von baukastenähnlichen
Neubaufronten gibt es eine kleine Straße, die heißt „Zum Langen Jammer“.
19 Feb 2022
## LINKS
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## AUTOREN
Ehmi Bleßmann
## TAGS
Ausgehen und Rumstehen
Friedrichshain
Stadtleben
Gentrifizierung
Ausgehen und Rumstehen
Friedrichshain-Kreuzberg
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