Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Waldorfschulen und das Böse: Drachen töten – gegen Neugier
> Als Kind feierte unsere Kolumnistin begeistert Michaeli. Heute sieht sie
> darin: Gut-böse-Dualismus und keine Einordnung des Schutzpatrons der
> Deutschen.
Bild: Wenn es Herbst wird in der Waldorfschule …
Wenn es draußen ungemütlicher und dunkler wurde, bekam mein Leben in der
Waldorfschule eine besondere Intensität. In relativ dichter Folge feierten
wir Michaeli, Erntedank, Martini, Nikolaus, Advent. Das Profane blieb
draußen in der grauen kalten Welt, und wir sangen, zündeten Kerzen an und
pflegten jeden Morgen die passenden jährlich wiederkehrenden Rituale.
Gerade ist Michaelizeit. [1][Erzengel Michael ist Drachenbezwinger und
Seelenwäger]. Er bekämpft das Böse und entscheidet nach unserem Tod über
Himmel oder Verdammnis.
Ich habe im Grundschulalter enthusiastisch gesungen: „O unbesiegter
Gottesheld, Sankt Michael! … Hilf uns hie kämpfen, die Feinde dämpfen,
Sankt Mi-hi-cha-el!“ Und mich immer gefragt, wieso das „dämpfen“ heißt.
Aber egal. Ich hatte schlicht Freude an Machtgebärden, Inbrunst und
Heldengeschichten. Und es war ein beruhigendes Gefühl, dass die gute
Lichtgestalt siegt und uns alle beschützt, während man morgens so langsam
im Dustern zur Schule musste.
Die Michaeli-Rituale sind vielfältig. Wir haben den Drachenkampf besungen,
gemalt, geknetet, erzählt. Und wir hatten eine Waage im Klassenzimmer. Für
gute Taten durften wir helle Kiesel in eine Waagschale legen. In der
anderen lag ein dunkler schwerer Stein. Das Böse besiegen und
Selbstüberwindung üben. Dafür gab es Mutproben. Aktuell sehe ich auf
Instagram, wie Schwerter aus Hefeteig gebacken und „Drachenblut“ in Form
von Traubensaft ausgeschenkt wird. Manche Waldorfschulen bauen einen
Drachen, der als Festakt mit der ganzen Schulgemeinschaft entzündet wird.
Von Fünftklässlern, die ihn mit brennenden Pfeilen beschießen.
In der Michaelizeit war das Leben bedeutungsvoll und spannend. Es ging um
alles. Im Kampf gegen das Böse wollte auch ich meinen Teil beitragen. „Laß
mich ein Streiter Gottes sein / In der Ritterschaft des Gral (…) Reich mir
zum heißen Drachenkampf / Dein heilig Michael-Schwert!“ Das war mein
Lieblings-Michaeli-Lied.
Selbst in innigster Liebe zu Superhelden spüren Kinder, dass die
Erwachsenen nicht daran glauben. Aber die Erwachsenen an der Waldorfschule
haben an den Superhelden Michael geglaubt. Das war kein Spiel!
Heute widert mich so vieles an dieser waldörflichen Tradition an, dass ich
gar nicht weiß, wo anfangen: beim tief Religiösen im Schulalltag, beim
brandgefährlichen Gut-böse-Dualismus, bei den unsäglichen Mutproben, beim
Martialischen, bei der fehlenden kritischen Einordnung des Schutzpatrons
der Deutschen und dessen Verherrlichung in Kriegszeiten, beim Drachentöten
…
Denn wer ist der Drache? Er steht für die „Widersachermächte“ Ahriman und
Luzifer, und diese beiden repräsentieren unter anderem auch intellektuelle
Neugier, leibliches Wohl, technischen Fortschritt, menschliche Intelligenz,
Medien, empirische Wissenschaft …
Dinge, die ich für wertvoll und notwendig erachte. Wir werden die Probleme
dieser Welt nicht ohne nüchterne Wissenschaft und moderne Technologie in
den Griff bekommen. Auch Medien, egal ob in Form von guter
Berichterstattung oder für individuellen Eskapismus, sind unabdingbar.
Ich fühle mich rückblickend als kleine Michaelskämpferin
instrumentalisiert! Heute bin ich wohl #teamdrache und nähre mit meiner
Kritik ahrimanische, böse Kräfte. Tja nun.
10 Oct 2023
## LINKS
[1] /Flyer-ueber-NS-Geschichte-des-Lichtbringers/!5554429/
## AUTOREN
Frau Lea
## TAGS
Kolumne Exit Waldorf
Waldorfpädagogik
Waldorfschule
Religion
Kolumne Exit Waldorf
Kolumne Exit Waldorf
Waldorfschule
Waldorfschule
Rudolf Steiner
Lesestück Recherche und Reportage
## ARTIKEL ZUM THEMA
Anthroposophische Kreativität: Mein Hocker ist dein Hocker
Künstlerischen Ausdruck zu fördern, schreiben sich die Waldorfschulen auf
die Fahnen. Allerdings ist die künstlerische Freiheit stark eingeschränkt.
Gefühl der Ungerechtigkeit: Waldorfs Demokratieverständnis
Eine Pianistin spielte im Unterricht, es gab Bioessen. Doch unsere Autorin
fühlte sich als Waldorfschülerin benachteiligt. Heute weiß sie es besser.
Verdacht auf Queerfeindlichkeit: Tod dem rosa Drachen
Die Waldorfschule Itzehoe erlebt einen Shitstorm. Bei einem Fest wurde ein
großer Pappmaché-Drache verbrannt, der queere Symbole trug.
Waldorfschule als Gemeinschaft: Zum Leben erweckt, doch uniform
Jahrelang fühlte unsere Kolumnistin sich in der Waldorfschule als Teil
einer Gemeinschaft. Dann merkte sie, wie beengt und gleichförmig die war.
Anthroposophie in der Kritik: Zu wenig Anschauung
Die Anthroposophie steht zurzeit heftig unter Beschuss. Aber wie
überzeugend sind die Argumente ihrer Gegner? Eine kleine Gegenkritik.
Waldorfpädagogik und Maskenpflicht: Das Ringen um den Einzelnen
Freie Waldorfschulen hatten beim Umgang mit Corona oft Probleme mit ihrer
Klientel und Lehrerschaft. Zwei Ulmer Schulen gehen unterschiedliche Wege.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.