# taz.de -- Wahlkampf in Russland: Es ist Wahl und niemand geht hin | |
> In Russland und den besetzten Gebieten werden Wahlen inszeniert. Aber | |
> nicht mal die Kandidaten kommen noch zum TV-Duell. | |
Bild: Wahlwerbung in Moskau: Viel häufiger sind jedoch Plakate, die für die A… | |
MOSKAU taz | Auf dem Bildschirm des Moderators im staatlichen russischen | |
Fernsehen Rossija 1 steht „Wahlen 2023“, es weht die russische Trikolore. | |
„Herzlich willkommen zur Fernsehdebatte“, sagt der Mann mit der Brille und | |
klammert sich an seine Karteikarten, ebenfalls in den Russlandfarben | |
Weiß-Blau-Rot. Die Kamera schwenkt zu den beiden Pulten, die für die | |
Kandidaten der Kommunistischen Partei der russischen Föderation und der | |
Pop-Empörungspartei LDPR aus dem Kusbass, dem Steinkohlerevier Russlands in | |
Sibirien, vorgesehen sind. | |
Doch die Politiker sind nicht ins Studio gekommen. Wie auch andere | |
Kandidat*innen quer durchs Land ihre Debattierpulte einfach | |
Debattierpulte haben sein lassen. Debatten [1][sind in Russland ohnehin | |
nicht geduldet]. Der Moderator von Rossija 1 bricht wenige Momente später | |
seine Sendung ab, es geht weiter im Programm. Das Fernsehen meldet | |
„Erfolge“ an der Front in der Ukraine. | |
Das leere Studio ist symptomatisch für die russischen Regionalwahlen, die | |
bis Sonntag andauern. Es sind Scheinwahlen, die der Legitimation des | |
Bestehenden dienen. Das Volk soll Beifall klatschen. Staatsangestellte | |
werden faktisch genötigt, ihre Kreuze bei den „richtigen“ | |
Kandidat*innen zu machen. Andere lockt man mit allerlei Gewinnen. | |
Allerdings werden – im Gegensatz zum vergangenen Jahr – keine Wohnungen | |
oder Autos mehr verlost, sondern Medikamente, Spielzeug oder Geld. | |
Abgestimmt wird in ganz Russland, und auch in den besetzten ukrainischen | |
Gebieten Donezk, Luhansk, Cherson und Saporischschja. In 21 Regionen stehen | |
Gouverneure zur Wahl, in Moskau soll der Bürgermeister gewählt werden, in | |
20 Regionen werden Lokalparlamente gewählt und auch 4 freigewordene Sitze | |
in der Duma, dem Staatsparlament, sollen neu besetzt werden. Es ist eine | |
Wahl mitten im Krieg, sie gaukelt Normalität vor. Eine Normalität, [2][die | |
hohl ist]. | |
## Die Menschen sind müde | |
Wahlkämpfe, die als solche zu bezeichnen wären, finden nicht statt. Viele | |
oppositionelle Kandidat*innen, die es im vergangenen Jahr noch gegeben | |
hatte, haben das Land verlassen. Auch wenn Oppositionelle aus dem Ausland | |
versuchen, die in Russland gebliebenen Russ*innen zu motivieren, zur Wahl | |
zu gehen, weil nur so das Land zu verändern sei, so verhallen ihre Aufrufe | |
meist. Die Menschen sind müde, sind müde gemacht worden von einem System, | |
das politische Beteiligung mit rigorosen Gesetzen getilgt hat, viele sehen | |
keinen Sinn darin, sich an der Abstimmungsfarce zu beteiligen. | |
In Moskau finden sich entlang der Straßen mehr Plakate mit Werbung, an der | |
Front zu dienen, als Konterfeis von Kandidaten. Viele Menschen wissen | |
nicht, wer die Gegner des langjährigen und durchaus erfolgreichen Moskauer | |
Bürgermeisters Sergei Sobjanin sind. Der 65-Jährige lässt die Stadt hübsch | |
gestalten, lässt immer weitere Metro-Stationen einrichten, Krankenhäuser | |
bauen und die Verwaltung digitalisieren. Zum Krieg äußert er sich nie. | |
Vor zehn Jahren noch hatte [3][Alexei Nawalny], mittlerweile für Jahrzehnte | |
in die Strafkolonie geschickt, bei den Bürgermeisterwahlen seinen größten | |
Erfolg gefeiert. Er kam nach Sobjanin auf Platz 2. Solche Zeiten, wo noch | |
der Anschein von Vielfalt und Konkurrenz gewahrt wurden, sind längst | |
vorbei. | |
Heute stehen dem Amtsinhaber ein Duma-Kandidat der Partei „Neue Menschen“ | |
und der Enkel des Langzeitkommunisten Gennadi Sjuganow gegenüber, sie sind | |
lediglich Puppen in einem Wahlspiel, bei dem der Sieger bereits feststeht, | |
noch bevor die Wahllokale geöffnet haben. | |
## Stadtfest statt wählen | |
Manche Moskauer*innen wissen nicht einmal, dass Wahl ist. „Ich gehe seit | |
Jahren nicht abstimmen, warum sollte ich das jetzt plötzlich tun?“, fragt | |
eine ältere Dame im Zentrum der Stadt. „Wahl? Es ist doch Stadtfest. Wir | |
gehen mit der ganzen Familie feiern“, sagt eine Frau, die einen Kinderwagen | |
vor sich herschiebt. | |
Moskau hat sich herausgeputzt, hat Häuserwände mit Fahnen geschmückt, hat | |
Bühnen in den Parks aufstellen lassen. Es feiert das 876. Jahr seines | |
Bestehens. Es gibt Konzerte, Kinderschminke und ein Feuerwerk. | |
Menschenbeglückung in Zeiten eines Krieges, den die meisten Russ*innen | |
beiseiteschieben, [4][mögen auch bei und in Moskau mittlerweile fast | |
täglich Drohnen herunterfallen]. | |
Das Bürgermeisterbüro meldet schnell, es habe alles im Griff, die Stadt | |
lässt zerborstene Fenster rasch ersetzen und kaputten Asphalt neu verlegen. | |
Die Menschen spazieren durch die herbstliche Stadt, sitzen in der Sonne, | |
stellen sich in die Schlange vor Ausstellungen. Es herrscht politische | |
Grabesstille. | |
Und doch ist der Staat bemüht, die Wahl wie eine Wahl aussehen zu lassen, | |
auch wenn er unabhängige Wahlbeobachter*innen als Extremist*innen | |
betrachtet und einzusperren versucht. Es ist ein Probelauf für die | |
Präsidentschaftswahl im März 2024. Gewisse Methoden werden bereits | |
getestet, vor allem das Abstimmen zu Hause am Rechner. | |
## Gleiche Nachnamen | |
Dabei lassen sich Manipulationen noch weniger nachvollziehen. In manchen | |
Regionen werden für Kandidat*innen jeglicher Parteien gleich aussehende | |
Werbezettel gedruckt, die Menschen können kaum erkennen, wer sich wofür | |
einsetzt. Was letztlich auch gar nicht wichtig ist. | |
In der Region Woronesch haben sich gleich acht Männer mit demselben | |
Nachnamen registriert. Die Menschen können nun zwischen Wladimir, | |
Alexander, Alexej, Anatoli, Anton, Wiktor, Jewgeni oder Juri Wachtin | |
wählen. | |
In der Region Smolensk hatte es einen Aufstand gegeben, weil sich ein | |
Alexander Selenski als Kandidat – für die Regierungspartei „Einiges | |
Russland“ – hat aufstellen lassen. Ein Rentner forderte den Mann mit dem | |
gleichen Nachnamen wie der ukrainische Präsident auf, seinen Nachnamen zu | |
ändern oder seine Kandidatur fallen zu lassen. Sonst beleidige dieser „alle | |
Teilnehmer der militärischen Spezialoperation und alle Patrioten“. Selenski | |
kandidiert weiter. | |
## Kein Kräftemessen | |
In der Republik Chakassien, einer Region im Süden Sibiriens, sah sich der | |
Staat gezwungen, dem jungen Kommunisten Walentin Konowalow, der als | |
30-Jähriger in einer Protestwahl vor fünf Jahren den Posten des Oberhaupts | |
der Republik erobert hatte, einen loyalen Duma-Abgeordneten als | |
Gegenspieler vor die Nase zu setzen. | |
Als immer klarer wurde, dass Sergei Sokol, ein Mitglied von „Einiges | |
Russland“, der sich als Veteran des Ukrainekriegs feierte, Konowalow | |
unterlegen sein würde, meldete sich Sokol krank und zog seine Kandidatur | |
zurück. Auf ein Kräftemessen wollte es der Staat offenbar nicht ankommen | |
lassen. Damit verlor Russland seinen einigermaßen interessantesten | |
Wahlkampf. | |
9 Sep 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Podcast-Bundestalk/!5944040 | |
[2] /Willkuer-in-Russland/!5929033 | |
[3] /Prozess-gegen-Alexei-Nawalny/!5936234 | |
[4] /Drohnenangriffe-auf-Russland/!5934756 | |
## AUTOREN | |
Inna Hartwich | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Wolodymyr Selenskij | |
wochentaz | |
Wahlplakate | |
Russland | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Regionalwahlen in Russland: Peinliche Performance | |
Die Wahlen in Russland waren eine Farce, doch das kümmert den Kreml nicht: | |
Hauptsache, der Schein wird gewahrt. | |
Regionalwahlen in Russland: Probelauf für 2024 | |
Bei den Regionalwahlen in der Hauptstadt Moskau ist der Wählerwille | |
unwichtig. Der Kreml übt damit für die Präsidentschaftswahl im kommenden | |
Jahr. | |
Russische Scheinwahl in besetztem Gebiet: Stimmabgabe auf der Motorhaube | |
In den von Russland besetzten ukrainischen Gebieten werden Scheinwahlen | |
abgehalten. Passanten werden auf der Straße zur Stimmabgabe gezwungen. | |
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++: Erneut Drohnenangriffe auf Kyjiw | |
Auch in der Nacht zu Sonntag wurden ukrainische Städte bombardiert. | |
Russland hält Regionalwahlen ab, auch in den besetzten Gebieten der | |
Ukraine. | |
Uranmunition für die Ukraine: Uran alleine reicht nicht | |
Die von den USA nun gelieferte Uranmunition ist weder dystopisch – noch | |
wird sie den Krieg entscheiden. Wichtig für die Ukraine ist noch etwas | |
anderes. | |
Neuer ukrainischer Verteidigungsminister: Markantes Zeichen | |
Der Verteidigungsminister musste gehen, weil sich die schlechten | |
Nachrichten aus seinem Haus häuften. Der Neue könnte ein Joker sein. | |
Parlament der Ukraine: Überläufer und Thailand-Urlauber | |
Seit Krieg herrscht, sinkt die Zahl der Abgeordneten im ukrainischen | |
Parlament. Die Gründe sind vielfältig – und alarmieren auch den | |
Präsidenten. |