# taz.de -- Vergewaltigungsdebatte in Italien: Geist der Rechtfertigung | |
> In üblicher Wutmanier verteidigt Fünf-Sterne-Gründer Beppe Grillo seinen | |
> Sohn gegen Vergewaltigungsvorwürfe. Doch das Klima hat sich geändert. | |
Bild: Wer enge Jeans trägt, ist nicht schuld an der eigenen Vergewaltigung: Pr… | |
Die Wut ist seine Chiffre. Brül[1][lend, gestikulierend, rumtobend: So | |
kennen die Italiener*innen Beppe Grillo schon seit Jahrzehnten.] | |
Zunächst galt sein immer in höchsten Dezibelbereichen geäußerter Zorn mehr | |
oder weniger verbrecherischen Großunternehmen wie der Telecom Italia oder | |
dem Milch-Multi Parmalat, mit denen der Komiker in seinen Bühnenshows | |
abrechnete, während sein Gesicht rot anlief und die Schläfenadern | |
anschwollen. | |
Dann bestritt er, von 2009 an zum Politiker und Gründer der Fünf Sterne | |
mutiert, seine vielen Wahlkampfauftritte mit genau derselben | |
Rumpelstilzchen-Masche, nun gegen korrupte Politiker wie den „Psychozwerg“ | |
Silvio Berlusconi wetternd. Und das Gebrüll zahlte sich aus: Als Comedian | |
wurde er zum Millionär, als Politiker führte er seine Bewegung zu dem | |
Triumph der Parlamentswahlen von 2018, als die Fünf Sterne 33 Prozent | |
holten. | |
Deshalb wunderte es in Italien keine*n so recht, dass Grillo sich vor zwei | |
Wochen [2][mal wieder mit einem Wutvideo zu Wort meldete.] Ungewohnt war | |
jedoch das Argument. Nicht um üble Machenschaften in Wirtschaft oder | |
Politik ging es diesmal, sondern um seinen 21-jährigen Sohn Ciro. Als | |
„Serienvergewaltiger“ geistere der zusammen mit drei Freunden durch die | |
Medien, hebt Grillo senior an. | |
Im üblichen Brüllstakkato nimmt er dann die Vorwürfe auseinander. Am | |
Nachmittag nach der vermeintlichen Tat sei die junge Frau glatt zum | |
Kitesurfen gegangen, sie hätte dann erst nach acht Tagen Anzeige | |
erstattet. „Seltsam, nicht wahr?“, fragt Grillo mit bebender Stimme, | |
während seine Hand voller Wucht auf die Tischplatte vor ihm schlägt. | |
Und dann gebe es ja noch das Smartphonevideo von der fraglichen Nacht, da | |
werde „gelacht“, da sehe man die Jungs, wie sie in Unterhosen rumhüpfen und | |
dann ihre „Pimmel“ rausholen: „Vier Deppen, nicht vier Vergewaltiger“, | |
fasst Grillo seine Ermittlungen zusammen. Völlig klar für ihn, dass der | |
anschließende Sex „einvernehmlich“ war. | |
Unstrittig ist: Am 17. Juli 2019 hatten „Silvia“ – so nennen die | |
italienischen Medien die junge Mailänderin mit einem Alias-Namen – und ihre | |
Freundin „Roberta“ zufällig die vier jungen Männer aus Genua getroffen, in | |
der Schickimickidisco Billionaire an der sardischen Costa Smeralda. Die | |
Herren bitten an ihren Tisch (Kosten inklusive einer Flasche Champagner und | |
einer Flasche Schnaps: 600 Euro). Die Nacht wird lang, als die beiden | |
Mädchen kein Taxi finden, laden die Jungs in Grillos Ferienwohnung ein, | |
„auf einen Teller Spaghetti“. | |
## Andere Darstellungen | |
Von da an jedoch gehen die Darstellungen radikal auseinander. Roberta | |
schlief schnell ein, Silvia dagegen brachte zur Anzeige, dass sie zunächst | |
in ihrem Bett von einem der drei Freunde Ciro Grillos vergewaltigt worden | |
sei. Dann hätten Ciro und die zwei anderen ihr in den Morgenstunden mit | |
Gewalt eine halbe Flasche Wodka eingeflößt, um ihrerseits über sie | |
herzufallen, einer nach dem anderen. | |
Nichts davon ist wahr, behaupten die vier aus Genua, aus freien Stücken | |
habe Silvia eine Viertelflasche Wodka runtergekippt, um ihre | |
Trinkfestigkeit zu beweisen, aus freien Stücken habe sie sich dann mit Ciro | |
und seinen zwei noch wachen Kumpels vergnügt. | |
## Ungute Erinnerungen | |
Wie die Dinge wirklich lagen, wird bald ein Prozess zu klären versuchen. | |
Wie Beppe Grillo sie in seinem Video schon vorab geklärt hat, weckt | |
allerdings ungute Erinnerungen an den Umgang, den Teile der Öffentlichkeit, | |
den immer wieder auch die Justiz bis vor gar nicht langer Zeit mit | |
Vergewaltigungen pflegten. | |
Da ist zum Beispiel der Fall Marinella Cammarata, der im kollektiven | |
Gedächtnis der italienischen Frauenbewegung geblieben ist. Im März 1988 | |
wird sie, mitten in Rom gleich hinter der Piazza Navona, von drei Männern | |
vergewaltigt, bis ein Carabiniere einschreitet. Obwohl die Sachlage | |
eigentlich völlig klar ist, wird der Prozess zur Tortur für sie. Die Täter | |
sagen aus, sie seien Objekt der Avancen des Opfers gewesen, was dann | |
geschah, war angeblich „einvernehmlich“. | |
## Bis 1981 gab es die „heilende Ehe“ | |
Die Verteidiger beschäftigen sich nicht mit dem Fall, sondern mit der | |
angeblich zweifelhaften Moral des Opfers, die Verwandten beschimpfen sie im | |
Gerichtssaal. Am Ende kommen gerade einmal zwei Jahre und ein Monat Haft | |
heraus, ausgesetzt auf Bewährung. | |
Dass die Anwälte sich mit der Moral des Opfers statt mit dem Handeln der | |
Täter befassten, kam nicht von ungefähr. Noch bis 1996 behandelte das | |
italienische Strafgesetzbuch Vergewaltigung als Verbrechen „gegen die | |
öffentliche Moral“, nicht gegen die Person. Bis 1981 hatte wiederum ein | |
Paragraf Bestand, der gar die „heilende Ehe“ vorsah: Wenn der Vergewaltiger | |
sein Opfer später ehelichte, war seine Tat dadurch ungeschehen gemacht. | |
## Geist der Exkulpation bleibt | |
Solche Normen gehören der Vergangenheit an, ihren Geist der Exkulpation | |
atmen jedoch immer wieder Gerichtsentscheidungen und auch öffentliche | |
Reaktionen auf Vergewaltigungsfälle. So befand im Jahr 1999 das | |
Kassationsgericht – der höchste Gerichtshof des Landes –, in dem | |
verhandelten Fall könne gar keine Vergewaltigung vorgelegen haben, weil die | |
Klägerin „eine enge Jeans“ trug und sie gegen ihren Willen gar nicht habe | |
ausgezogen werden können. 2006 dann entschied erneut das | |
Kassationsgericht im Fall einer 14-Jährigen, ihre Vergewaltigung durch den | |
Stiefvater sei „minder schwer“, da sie keine Jungfrau mehr gewesen sei. | |
Im Jahr 2013 urteilte ein Turiner Gericht, da das Opfer nicht geschrien | |
habe, sei eine Vergewaltigung nicht gegeben. Bloß mehrfach zu sagen „Nein, | |
basta“ reiche nicht aus, da die Frau weder die Stimme gehoben noch sich | |
auch physisch gewehrt habe. Im Jahr 2017 wiederum [3][sprach das | |
Appellationsgericht in Ancona zwei junge Männer mit der] unglaublichen | |
Begründung frei, ihr Opfer sei zu unansehnlich, um Opfer einer | |
Vergewaltigung zu werden. Als „gerissene Peruanerin“ wird die junge Frau in | |
dem Urteilstext verunglimpft, sie habe die Täter „provoziert“ und zum | |
Geschlechtsverkehr „verleitet“. Dieses Urteil allerdings wurde dann vom | |
Kassationsgericht aufgehoben. | |
## Die Zeit ist nicht stehen geblieben | |
Dass in Italien die Zeit nicht stehen geblieben ist, zeigten jedoch die | |
empörten Reaktionen, die solche Urteile immer wieder hervorriefen. So | |
versammelten sich nach dem „Jeansurteil“ Parlamentarierinnen aus allen | |
politischen Lagern von links bis rechts zum gemeinsamen Protest, alle | |
hatten eine enge Jeans an. Und so riefen Frauenverbände zum Flashmob nach | |
dem Freispruch in Ancona. | |
Wenig Empörung löste andererseits vor Ort eine Gruppenvergewaltigung aus, | |
die sich im März 2007 in dem Küstenstädtchen Montalto di Castro, 100 | |
Kilometer nördlich von Rom, zugetragen hatte. Acht Jungen, der jüngste 14, | |
der älteste 17 Jahre alt, missbrauchten stundenlang ein 14-jähriges | |
Mädchen. Als sie von der Staatsanwaltschaft zur Rechenschaft gezogen | |
wurden, solidarisierte sich der ganze Ort mit ihnen. „Brave Jungs“ seien | |
das, hieß es, für sie könne man „die Hand ins Feuer legen“. | |
## „Einen Minirock angehabt“ | |
Das Opfer wiederum habe ja „einen Minirock angehabt“, und am Nachmittag | |
vor der Tat sei sie doch glatt „mit einem anderen zusammen gewesen“. Der | |
Bürgermeister, ein linker Politiker, räumte den Täterfamilien ein Darlehen | |
aus der Kasse der Kommune ein, damit sie die Anwaltskosten begleichen | |
konnten, und statt Gefängnis gab es am Ende Sozialstunden für die | |
Vergewaltiger. | |
Das Opfer ist gar keines, die Täter sind unschuldig, die Schlampe wollte es | |
doch und hatte ihren Spaß, um dann haltlose Anschuldigungen in die Welt zu | |
setzen – argumentativ stellt sich jetzt auch Beppe Grillo in diese unselige | |
Tradition. Doch wie sehr diese Tradition bröselt, zeigten nicht zuletzt die | |
Reaktionen aus den Reihen der Fünf Sterne. | |
## Ziemlich einsam um die Grillos | |
So erklärte der als künftiger Chef der Bewegung designierte | |
Exministerpräsident Giuseppe Conte, er verstehe „die Sorgen des Vaters“, | |
schob dann aber sofort nach, darüber dürfe der Schmerz des vermutlichen | |
Opfers und seiner Familie nicht vergessen werden. Die „Autonomie der | |
Richterschaft“ sei zudem ein hohes Gut, und die „Bekämpfung der Gewalt | |
gegen Frauen“ sei „fundamental“ für die 5-Sterne-Bewegung. | |
Der Jugendministerin Fabiana Dadone, auch sie aus den Reihen der Fünf | |
Sterne, blieb es dann vorbehalten, Grillo daran zu erinnern, dass auf | |
Initiative der von ihm gegründeten Bewegung die Frist für die Anzeige von | |
Vergewaltigungsdelikten von sechs Monaten auf ein Jahr ausgedehnt wurde. | |
„Nicht korrekt“ sei deshalb seine Beschwerde über die erst nach acht Tagen | |
gestellte Anzeige gegen seinen Sohn. Vorbehaltlose öffentliche Solidarität | |
erfuhr Grillo nur von einer Person – von seiner Frau, Ciros Mutter. | |
[4][Ziemlich einsam ist es um die Grillos;] ihnen bleibt jetzt nur, den | |
Prozess abzuwarten. Am Montag teilte die Staatsanwaltschaft mit, sie habe | |
die Ermittlungen abgeschlossen. | |
6 May 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Beppe-Grillo-ueber-Europa/!5276885 | |
[2] https://www.youtube.com/watch?v=VEJznNovz8U | |
[3] /Gewalt-gegen-Frauen-in-Italien/!5580729 | |
[4] https://www.youtube.com/watch?v=wyhpTN_1dLE | |
## AUTOREN | |
Michael Braun | |
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