| # taz.de -- „Utøya 22. Juli“ startet in Deutschland: Jeder Schuss rekonstr… | |
| > „Utøya 22. Juli“ soll den Betroffenen die Hoheit über die Geschehnisse | |
| > zurückgeben. Erik Poppes Film verweigert Anders Breivik das Wort. | |
| Bild: 72 Minuten auf der Flucht: Andrea Berntzen als Kaja in „Utøya 22. Juli… | |
| Der Kinostart von „Utøya 22. Juli“, Erik Poppes filmischer Aufarbeitung | |
| des Utøya-Massakers von 2011, wird in vielerlei Hinsicht überschattet: Von | |
| der Erinnerung an die Tat selbst und Gedanken an den Größenwahnsinn des | |
| fanatischen Mörders Anders Behring Breivik. Von jüngsten Reaktionen auf die | |
| rechte Gewalt in Chemnitz. Von anderen Filmadaptionen, etwa der | |
| dramatisierten Netflix-Produktion von Paul Greengrass. Und zuletzt von den | |
| internationalen Debatten zum Film, die sich an seiner Premiere im | |
| Wettbewerb der Berlinale entzündeten – einem Festival, das noch dazu unter | |
| Verdacht steht, einen unkomplizierten Politikbegriff starkzumachen. | |
| Die Presse politisierte den Film so gründlich, wie es vielmals auch für | |
| andere wünschenswert wäre. Und so wurde nach der Fähigkeit des Regisseurs | |
| gefragt, angemessen auf die Extreme der Ereignisse zu reagieren. Die | |
| Antworten waren mehrfach ernüchternd: Aus „Utøya 22. Juli“, der ersten | |
| filmischen Auseinandersetzung mit dem Anschlag, sei nichts zu lernen. Poppe | |
| drücke sich um eine moralische Positionierung, hieß es. Andere verteidigten | |
| den Film für seinen halbdokumentarischen Stil. | |
| Ausgehend von dem brutalsten Verbrechen der jüngeren Geschichte seines | |
| Landes hat der norwegische Oscar-Anwärter in der Tat einen streitbaren, | |
| kalkulierten Film inszeniert, mit dessen Hilfe sich der Blick aus allen | |
| Diskursen ausklinken soll: Kurze Texttafeln und dokumentarische Aufnahmen | |
| von Breiviks Anschlägen auf das norwegische Regierungsviertel haken alle | |
| nötigen Kontexte ab und verorten neben dem bezeichnenden Titel das | |
| Geschehen noch präziser. | |
| Dann geht es ganz um die Wahrnehmung der jugendlichen Opfer, die die Kamera | |
| in einer einzelnen, 72-minütigen Einstellung ununterbrochen auf ihrem | |
| Leidensweg verfolgt. Poppe entwickelte gemeinsam mit Überlebenden des | |
| Angriffs und jugendlichen Laiendarsteller*innen eine lange, | |
| durchgehende Choreografie des Terrors, um nah an der Realität zu bleiben | |
| und einen möglichst großen Sinn für Empathie zu schaffen. | |
| Im Zentrum dieser Empathie: eine einzelne junge Frau namens Kaja (Andrea | |
| Berntzen) und ihr Kampf ums Überleben. Ihre Panik und ihre Ruhe. Der Wille, | |
| ihre Schwester zu retten. Das Kauern hinter Erdhügeln und unter Büschen, | |
| bis vielleicht endlich die Rettung kommt. Ungeahnte Freundschaft, die | |
| Hoffnung auf Heimkehr und vielleicht Liebe. Gespräche, die an Kriegsfilme | |
| erinnern. | |
| „Utøya 22. Juli“ soll den Betroffenen die Hoheit über die Geschehnisse | |
| zurückgeben, nachdem der Mörder Breivik selbst immer wieder im Zentrum des | |
| Medieninteresses stand – etwa durch Åsne Seierstads 500-seitiges Buch | |
| „Einer von uns“ oder durch den ausgedehnten Gerichtsprozess, von dem | |
| zahlreiche Videos im Netz zu finden sind. Ein Moment bleibt im Gedächtnis: | |
| Breivik bricht beim Anblick seines eigenen Propagandafilms in Tränen aus. | |
| Keinesfalls aus Reue, schlimmstenfalls aus Rührung. | |
| ## Der Film eines Profis | |
| Die 72-minütige Tötungssequenz von „Utøya 22. Juli“ verbietet ihm zu rec… | |
| das Wort und die Sichtbarkeit, nur zweimal erscheint er im Hintergrund als | |
| drohende Silhouette. Lediglich seine Schüsse sind zu hören – jeden | |
| einzelnen hat Poppe aus Protokollen des Verbrechens rekonstruiert und im | |
| Film platziert. Weil Breivik jede Kugel von Hand präparierte, um bei seinen | |
| Opfern extreme Wunden zu verursachen. | |
| Die Melange aus hyperrealistischem Reenactment und historischer Genauigkeit | |
| mündet in einem Schlusszitat, das irritiert: Der Film „basiert auf einer | |
| Wahrheit. Es mag andere geben“, verrät Poppe in den Credits – und legt | |
| damit mehr als die Vermutung nahe, dass ihm der Begriff Deutungshoheit | |
| nicht fremd ist. Im Blick des Films klingt eine schwierige Vermessenheit | |
| an. Etwa wenn Kaja ein verängstigtes, panisches Mädchen beim Sterben im | |
| Gestrüpp begleitet. Die Namenlose fleht nach ihrer Mutter, die wie zufällig | |
| ganz unmittelbar nach ihrem Tod auf dem Handy anruft. Erdacht scheint die | |
| Geschichte kaum. Doch das Display ist Poppe, so oder so, eine Großaufnahme | |
| wert. | |
| Bald verschiebt sich die Aufmerksamkeit weg vom Gegenstand und hin zur | |
| Inszenierung: Wenn Kaja hinter einem Hügel liegt, dann sieht sich auch die | |
| Kamera um, als wäre sie ein Mensch. Sie blickt vorsichtig über den Hügel | |
| und lässt die Ferne nur für einen Moment zwischen Schärfe und Unschärfe hin | |
| und her gleiten. Weil es Spannung erzeugt. Eine Prämisse, unter der der | |
| Film schließlich mit seiner Hauptfigur bricht, um sich zum Ende mit einem | |
| Clou als besonders ungefällig und radikal zu beweisen. | |
| Poppe forscht zum „subjektiven Objektiv“, zur Steigerung von Identifikation | |
| und Involviertheit des Publikums in erzählerischen Filmen bereits seit | |
| Jahren, ausgehend von „A Thousand Times Good Night“, in dem sich der | |
| ehemalige Fotojournalist mit seinem ehemaligen Berufsstand | |
| auseinandersetzte. In „Utøya 22. Juli“ nähert er sich dem Unfassbaren in | |
| seinem Land, indem er das tut, was er kennt. Der Film eines Profis. Ein | |
| Film von einer unmöglichen, vielleicht verlorenen Naivität. | |
| 20 Sep 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Dennis Vetter | |
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