# taz.de -- Urteil im „SUV-Prozess“: Bewährung, gerade noch | |
> Das Berliner Landgericht verurteilt den Unfallfahrer von der | |
> Invalidenstraße zu zwei Jahren auf Bewährung. Er hatte 2019 vier Menschen | |
> getötet. | |
Bild: Mahnwache für die vier getöteten Fußgänger:innen | |
BERLIN taz | Im [1][sogenannten „SUV-Prozess“] hat das Berliner Landgericht | |
nach vier Monaten am Donnerstag das Urteil verhängt: Der Angeklagte, der am | |
6. September 2019 auf der Invalidenstraße in Mitte mit seinem Wagen in eine | |
Menschengruppe raste und vier Personen tötete, erhält wegen fahrlässiger | |
Tötung und Gefährdung des Straßenverkehrs eine [2][Bewährungsstrafe von | |
zwei Jahren]. | |
Die RichterInnen gingen damit über den Antrag der Staatsanwaltschaft | |
hinaus, die anderthalb Jahre Bewährung gefordert hatte. Hinzu kommen ein | |
Entzug der Fahrerlaubnis für zwei Jahre und eine Zahlung von 15.000 Euro an | |
einen gemeinnützigen Verein. Gegen das Urteil kann Revision einlegt werden. | |
Der heute 45-jährige Michael M. hatte einen epileptischen Anfall erlitten | |
und infolgedessen das Gaspedal durchgetreten, als er mit seiner Mutter und | |
seiner Tochter in einem Porsche Macan Turbo unterwegs war. Da bei ihm einen | |
Monat zuvor aufgrund dieses Leidens eine Gehirnoperation durchgeführt | |
worden war, ging es im Prozess hauptsächlich um die Frage, ob M. mit einem | |
neuerlichen Anfall zu rechnen hatte und entgegen ärztlichem Rat Auto | |
gefahren war. | |
In der Begründung des Urteils durch den Vorsitzenden Richter wurde | |
deutlich, dass die Kammer detektivische Arbeit auf der Grundlage von | |
Krankenakten und Aussagen von Ärzten zu leisten hatte. Unter anderem hatte | |
ein behandelnder Arzt M. noch kurz vor dem Unfall mündlich belehrt – | |
„Denken Sie daran, nicht Auto zu fahren!“ –, dies jedoch erst zehn Tage | |
nach dem Unfall in die Patientenakte eingetragen, weil er sich der | |
Bedeutung dieser Information bewusst geworden war. | |
Der Vorsitzende Richter ging noch einmal auf die Verteidigungsstrategie des | |
Angeklagten ein: Der hatte zu Protokoll gegeben, dass er die mündliche | |
Warnung als Verweis auf eine von einem anderen Arzt erwähnte, bereits | |
abgelaufene Vier-Wochen-Frist verstanden habe. Dem wollte das Gericht nicht | |
folgen, auch nicht der Argumentation M.s, er hätte schließlich niemals | |
seine eigene Familie durch die Mitfahrt im Auto gefährdet, wenn ihm das | |
Risiko bewusst gewesen sei. | |
## „Sie waren sensibilisiert“ | |
Gegen einen solchen Fall von „unbewusster Fahrlässigkeit“ sprach aus Sicht | |
des Gerichts nicht nur die Tatsache, dass M. weiterhin entsprechende | |
Medikamente einnahm. Gegen ihn verwendet wurde auch seine als Entlastung | |
gemeinte Aussage, man habe ihm versichert, dass sich ein neuerlicher Anfall | |
durch eine sogenannte Aura rechtzeitig ankündigen würde. „Das belegt, dass | |
Sie sich des Risikos bewusst gewesen sind“, so der Vorsitzende Richter. | |
„Sie waren mehr als sensibilisiert.“ | |
Als strafmildernd beurteilten die RichterInnen M.s Bereitschaft, seine | |
Ärzte der Schweigepflicht zu entheben. Das sei eine „entscheidende | |
Aufklärungshilfe“ gewesen, ohne die es vielleicht gar nicht nicht zu einer | |
Verurteilung gekommen wäre. M. sei nicht vorbestraft gewesen, er habe | |
versichert, dass ihm die Tat unendlich leid tue, und er habe von sich aus | |
einem der Nebenkläger 50.000 Euro gezahlt. Das Gericht habe „sehr, sehr | |
lange beraten“ und sei „gerade noch“ zu dem Schluss gekommen, dass die | |
Strafe zur Bewährung ausgesetzt werden könne. | |
Es bleibt in diesem Fall, der bundesweit für große Aufmerksamkeit gesorgt | |
hatte, eine Diskrepanz zwischen dem Leid der Opfer und den Mitteln, die aus | |
Sicht des Gerichts zu Verfügung standen. Gestorben waren zwei 28 und 29 | |
Jahre alte Männer, sowie ein Dreijähriger und seine Großmutter. „Das | |
Strafrecht stößt hier an seine Grenzen“, so der Vorsitzende Richter, „es | |
kann den Schmerz der Hinterbliebenen nicht lindern.“ Er erinnerte noch | |
einmal an die im Prozess gesichteten Bilder, die die Dashcam des | |
Angeklagten aufgezeichnet hatte: „Das sind erschütternde Aufnahmen.“ | |
## ISA hätte nicht geholfen | |
In einer Reaktion auf das Urteil erinnerte die Fußgängerlobby FUSS e. V. an | |
die elektronische Motordrosselung „ISA“, die es FahrerInnen unmöglich | |
macht, das örtliche Tempolimit zu überschreiten. Zwar habe die EU das | |
System ab 2024 für alle Neuwagen verpflichtend gemacht, so FUSS-Sprecher | |
Roland Stimpel, auf Druck der Autolobby habe die EU aber auch ermöglicht, | |
dass das System mit einem starken Druck aufs Gaspedal ausgeschaltet werden | |
kann. | |
Damit hätte ISA auch beim Unfall von Michael M. keine Wirkung gehabt. „ISA | |
muss dringend nachgeschärft werden“, sagte Stimpel. Dem Sicherheitsverband | |
„European Transport Safety Council“ zufolge könne das Einhalten aller | |
Tempolimits die Zahl der Verkehrstoten um 20 Prozent senken. „Das wären in | |
der EU mehr als 4.000 gerettete Menschenleben im Jahr.“ Auch Autorennen und | |
Poser-Fahrten wären dann eine Sache der Vergangenheit. | |
17 Feb 2022 | |
## LINKS | |
[1] http://Unfallfahrer%20durfte%20nicht%20fahren | |
[2] https://www.berlin.de/gerichte/presse/pressemitteilungen-der-ordentlichen-g… | |
## AUTOREN | |
Claudius Prößer | |
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Johannsen. |