# taz.de -- Ungleiche Bildungschancen: Abitur? Bloß nicht in Bayern! | |
> Auf sein schwieriges Abitur bildet sich Bayern einiges ein. Es gilt als | |
> Qualitätssiegel. Für AbiturientInnen aber ist es vor allem eine Bürde | |
Bild: Noch lachen sie: AbiturientInnen in Bayern bekommen Probleme beim Wettbew… | |
BERLIN taz | Hannah Pazdera muss stöhnen, wenn sie an ihr Abitur denkt. | |
Genauer gesagt, wenn sie an die Mathe-Prüfung erinnert wird, die sie vor | |
sechs Monaten vorgesetzt bekam. Zwei von 15 möglichen Punkten hat die | |
Münchnerin erzielt, eine glatte Fünf. Die Note ist ihr „ein bisschen | |
peinlich“. Vor allem aber macht sie die Abiturientin wütend. | |
Denn die vergeigte Mathe-Prüfung ist der Grund, warum sie sich ihr | |
Wunschstudium erst mal an den Hut stecken kann. Während ihre Freundinnen | |
gerade aufgeregt die ersten Unikurse besuchen, wälzt die 18-Jährige | |
Broschüren von Hochschulen aus Österreich, Italien, Tschechien und | |
Bulgarien: „Ich habe die Wahl zwischen einem teuren Studium im Ausland oder | |
14 Wartesemestern in Deutschland“. | |
Hannah möchte Ärztin werden, ihr Abiturschnitt aber liegt bei 2,6. Ohne 1 | |
vor dem Komma hat sie keine realistische Chance auf einen der heiß | |
umkämpften Medizinstudienplätze. Den Einserschnitt hätte sie in der Tasche, | |
da ist sich Hannah sich sicher, wenn sie nicht ausgerechnet in Bayern zur | |
Schule gegangen wäre. In Niedersachsen oder Bremen hätte sie allein schon | |
deshalb besser abgeschnitten, weil sie dort niemand zur Mathe-Prüfung | |
verdonnert hätte, wie es der Freistaat seit Einführung des achtjährigen | |
Gymnasiums tut. | |
Bayern ist eines von fünf Bundesländern, die sämtlichen GymnasiastInnen | |
eine Matheprüfung abverlangen, wie auch Baden-Württemberg, Hessen, | |
Mecklenburg-Vorpommern und das Saarland. Im Rest der Republik kann man sich | |
vor Mathe drücken, indem man in Deutsch und einer Fremdsprache antritt. | |
## Ein schlechterer Schnitt ist kein Zufall | |
„Höchst ungerecht“ findet Hannah, die in Mathe noch nie sonderlich begabt | |
war. Ihr Gymnasium, das Mädcheninternat Max-Josefs-Stift in München, biete | |
auch nur einen sprachlichen und einen musischen Zweig an. Aber damit nicht | |
genug, ärgert sich Hannah – obendrein sei die Matheprüfung in diesem Jahr | |
besonders schwer gewesen. So empfanden es auch andere AbiturientInnen aus | |
Bayern, mit denen die taz gesprochen hat. | |
Dass das schwierige bayerische Abitur weder Einbildung noch statistischer | |
Zufall ist, hat Severin Wenzeck [1][nachgewiesen]. Der Student der | |
Humboldt-Universität Berlin hat für seine Masterarbeit 28 | |
Mathe-Abituraufgaben aus Berlin und Bayern zwischen 2011 und 2017 | |
untersucht und festgestellt: Die Berliner Prüfungen sind deutlich | |
einfacher. Weniger Aufgaben, weniger verschiedene Themengebiete, kaum | |
Transferaufgaben, die über das Gewohnte hinausgehen. | |
Und: In Berlin dürfen die SchülerInnen selber zwischen zwei Aufgaben | |
wählen. In Bayern macht das der Mathelehrer vor der Prüfung. Wenzecks | |
Fazit: In Berlin haben es AbiturientInnen deutlich leichter, eine gute Note | |
zu bekommen – und das begünstigt sie bei der Studienwahl. | |
Zum aktuellen Wintersemester sind rund 40 Prozent aller Studiengänge in | |
Deutschland zulassungsbeschränkt. Heißt: Der Studienplatz wird primär | |
anhand der Abiturnote vergeben – egal, ob man ein bayerisches Abitur hat | |
oder ein mutmaßlich einfacheres in Berlin oder Bremen. | |
Zwar wählen Hochschulen ihre BewerberInnen zunehmend gezielter aus, fragen | |
die Motivation ab oder testen die fachliche Eignung – das macht aber längst | |
nicht jede Hochschule. Auch weil solche Aufnahmeverfahren in den | |
Kultusministerien zum Teil sehr kritisch gesehen werden. Und weil sie | |
juristisch leicht anfechtbar sind, wie die TU München zuletzt schmerzlich | |
erfahren musste. | |
Aber selbst dort, wo sie genehmigt werden, bleibt die Abiturnote das | |
zentrale Auswahlkriterium. Ob man in Bremen oder Berchtesgaden seine | |
Hochschulreife erlangt hat, kann beim Rennen um den Studienplatz also den | |
Ausschlag geben. Ein Blick auf die durchschnittlichen Abiturnoten der | |
Länder genügt, um zu sehen, wie realistisch dieser Fall ist. | |
## Thüringen liegt vor Bayern | |
Zwischen dem besten Abiturdurchschnitt im bundesweiten Vergleich in | |
Thüringen (2,18) und dem schlechtesten in Niedersachsen (2,58) liegt fast | |
eine halbe Note. Ähnlich ungleich sind die Bestnoten verteilt: In Thüringen | |
ist es statistisch gesehen besonders einfach, eine Eins abzusahnen. Dieses | |
Jahr hat dort fast jeder Fünfte die Note 1,5 oder besser erzielt. | |
Seit Jahren schon stellt Thüringen bei Einserschnitten Rekorde auf. Was | |
regelmäßig die Frage aufwirft, wie vergleichbar ein Thüringer und ein | |
bayerisches Abitur sind (und zu bislang sehr zögerlichen Schritten geführt | |
hat, gemeinsame Abituraufgaben für alle Bundesländer einzuführen). Und zu | |
der Frage, ob es im bayerischen Interesse ist, wenn die eigenen | |
AbiturientInnen wie Hannah Pazdera schlechtere Chancen auf einen | |
Studienplatz haben. | |
Ein Anruf bei Bernd Sibler. Der Niederbayer hat selbst als Lehrer | |
gearbeitet, bevor er sich entschlossen hat, für die CSU Bildungspolitik zu | |
machen. Sibler – Abiturjahrgang 1990, Schnitt 1,8 – war zweimal | |
Staatssekretär für Unterricht und Kultus, seit März ist er bayerischer | |
Kultusminister. Schadet das bayerische Abitur den bayerischen | |
AbiturientInnen mehr, als es ihnen hilft? | |
„Die Abiturstandards der anderen Länder will ich nicht bewerten“, sagt | |
Sibler in kehligem Niederbayrisch. „Wichtig für mich ist allein, dass der | |
Qualitätsanspruch des bayerischen Abiturs nach wie vor sehr, sehr hoch | |
ist.“ Einen Nachteil für bayerische AbiturientInnen sehe er darin nicht. | |
„Einen Malus für bayerische Abiturienten gibt es so nicht – wenn man | |
bedenkt, dass wir ein hohes Leistungsniveau haben und unsere Abiturienten | |
dennoch gute Ergebnisse erzielen.“ | |
In der Tat liegen Bayerns SchülerInnen in [2][deutschlandweiten | |
Bildungsstudien] oft ganz vorne, bei den Abiturschnitten landen sie | |
konstant im oberen Drittel. Allerdings holen die anderen Länder auf. Berlin | |
etwa verbesserte seinen Schnitt innerhalb von zehn Jahren von 2,68 auf | |
2,39. Kritiker wie der notorisch alarmistische Deutsche Lehrerverband | |
beklagen seit Jahren eine Inflation guter Noten. | |
Auch in Bayern hat sich der Abiturschnitt in den letzten Jahren langsam, | |
aber stetig verbessert (siehe Grafik). Die Zahl der Superbesten ist | |
regelrecht in die Höhe geschnellt: Schafften 2011 noch 0,9 Prozent der | |
bayerischen AbiturientInnen eine 1,0, waren es 2018 schon 2,4 Prozent. | |
Kultusminister Sibler erklärt dies mit der Umstellung von G9 auf G8. | |
Seither zählen die schriftlichen Noten im Vergleich zu den mündlichen nicht | |
mehr doppelt. „Da können die Schnitte im Abitur ein bisschen besser | |
werden.“ Auch andere mündliche Leistungen flössen stärker in die Gesamtnote | |
ein. Sibler hat aber noch eine andere Erklärung: Möglicherweise nähmen | |
junge Menschen heute die Abiturprüfungen ein bisschen ernster als früher. | |
## Die Bürde wird bleiben | |
Was nach dem Gespräch mit Kultusminister Sibler klar ist: In Bayern wird es | |
keine Aufweichung der Standards geben – selbst wenn bayerische | |
AbiturientInnen künftig noch stärkere Wettbewerbsnachteile hinnehmen | |
müssen. Eine Haltung, die auch außerhalb Bayerns Bewunderer findet. Student | |
Wenzeck, der die bayerischen Matheprüfungen unter die Lupe genommen hat, | |
attestiert dem anspruchsvollen Freistaat-Abitur „Charme“. Und Sibler | |
glaubt, den „Respekt“ der übrigen KultusministerInnen zu spüren, wenn vom | |
bayerischen Abitur die Rede sei. | |
Eine, die als Kultusministerin eines anderen Bundeslandes jahrelang mit | |
Siblers Vorgänger Ludwig Spaenle (CSU) zu tun hatte, erzählt im Vertrauen, | |
wie vehement die Bayern auf hohe Standards auch bei den anderen pochten. | |
„Uns war allen klar, wie unterschiedlich die Leistungsniveaus sind.“ Es sei | |
nicht von der Hand zu weisen, dass Studierende aus manchen Bundesländern | |
benachteiligt sind. Um das zu ändern, müssten die Abitur-Prüfungen jedoch | |
viel stärker angeglichen werden als bisher. | |
Seit vergangenem Jahr integrieren die Bundesländer [3][teilweise Prüfungen | |
aus einem gemeinsamen Aufgabenpool] in ihre Abiturprüfungen – ihr Anteil am | |
Gesamtschnitt ist aber minimal. Echte Vergleichbarkeit, erinnert sich die | |
Ex-Ministerin, habe niemand gewollt. Das habe schon bei der Bereitschaft | |
angefangen, gemeinsame Termine zu finden. | |
Die Bürde des bayerischen Abiturs wird also bestehen bleiben. Oder noch | |
schwerer werden, wenn sich die Abiturschnitte in anderen Ländern auch | |
künftig schneller verbessern als in Bayern. | |
Fragt man an bayerischen Universitäten, spielt diese Befürchtung keine | |
Rolle. Bernhard Goodwin leitet an der Ludwig-Maximilians-Universität | |
München die Geschäftsstelle des Instituts für Kommunikationswissenschaft. | |
Wer hier einen Bachelor anfangen möchte, braucht einen Schnitt von 1,8. | |
Gibt es mehr BewerberInnen als Plätze, wird gelost. | |
Auch Goodwin weiß, dass es aufgrund der unterschiedlichen Standards zu | |
ungerechten Entscheidungen kommen kann, ein größeres Problem sieht er aber | |
in der sozialen Benachteiligung. „In München sind die Mieten für | |
Studierende unbezahlbar“, sagt er. Wer kein Stipendium bekomme und nicht | |
von seinen Eltern unterstützt werde, gehe in eine andere Stadt. „So gesehen | |
sind BewerberInnen aus München viel stärker bevorzugt.“ | |
Ein Vorteil, den Hannah Pazdera nicht in Anspruch nehmen kann. Wenn alles | |
klappt, studiert sie ab nächstem Jahr in Österreich Medizin. Vorausgesetzt, | |
sie schafft im Aufnahmetest eine Top-Note. Und wenn es partout nichts wird | |
mit dem Medizin-Studium, hat sie ja immerhin noch das bayerische Abitur. | |
6 Nov 2018 | |
## LINKS | |
[1] http://didaktik.mathematik.hu-berlin.de/user/filler/Masterarbeit_Wenzeck-Se… | |
[2] https://www.insm-bildungsmonitor.de/ | |
[3] /!5429266/ | |
## AUTOREN | |
Ralf Pauli | |
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