| # taz.de -- Umfrage zur Situation von Musikerinnen: Sexismus auf der Bühne | |
| > Abgesehen von wenigen Megastars können es sich viele Musikerinnen kaum | |
| > noch leisten ihrer Kunst nachzugehen. Zudem stehen sie unter Druck, ihre | |
| > Sexualität strategisch einzusetzen. | |
| Bild: Eine der wenigen Megastars, die von der Kunst mehr als leben können: Lad… | |
| Immer wieder wird in popjournalistischen Leitartikeln mit viel Getöse die | |
| Machtübernahme der Frauen im Pop beschworen. Jedes neue Album einer | |
| erfolgreichen Musikerin wird als Anzeichen dafür gelesen, dass es nun aber | |
| wirklich so weit sei: "Frauen on top! Männer total im Hintertreffen!" | |
| Die Wirklichkeit sieht freilich anders aus – da ist trotz einiger | |
| weiblicher Megastars wie Lady Gaga, Rihanna oder auch Beth Ditto von einem | |
| flächendeckenden Popmatriarchat wenig zu spüren. | |
| Dennoch hat sich die Situation von Musikerinnen in den letzten zehn bis | |
| zwanzig Jahren deutlich verändert. Zurückzuführen ist das nicht nur auf | |
| eher geschlechterunspezifische Entwicklungen wie die Verfügbarkeit neuer | |
| Technologien oder die Devolution der Musikindustrie, sondern auch auf den | |
| Einfluss von neuen feministischen Theorien und Praktiken. | |
| Der Import des stark popkulturell geprägten Dritte-Welle-Feminismus und das | |
| Aufkommen der selbstbewussten Riot Grrrls aus den USA haben eine Fülle von | |
| weiblichen Rollenmodellen hervorgebracht, auf die sich jüngere Frauen ganz | |
| selbstverständlich beziehen können. Strukturelle Probleme bleiben aber, vor | |
| allem bei der Vielzahl jener Musikerinnen, die nicht in der | |
| Topverdienerinnen-Liga mitspielen – oder es tauchen sogar neue auf. | |
| In die Flasche pinkeln | |
| Das US-amerikanische National Public Radio hat diese ambivalente | |
| Ausgangslage zum Anlass genommen, in einer groß angelegten Umfrage mehr als | |
| 700 einheimische und internationale Musikerinnen aus allen Sparten von Oper | |
| bis Gothic Metal zu ihrer Situation zu interviewen. | |
| Die Ergebnisse dieser Studie mit dem Titel "Hey Ladies. Being A Woman | |
| Musician Today" sind online auf der Website [1][npr.org] abrufbar. Gewidmet | |
| ist sie all jenen Musikerinnen, "die schon mal für eine Musikerfreundin, | |
| eine Anfängerin oder einen Jungen gehalten wurden, die zehn mal besser als | |
| alle Männer sein müssen, um sich zu beweisen, und die sich gewünscht haben, | |
| auf endlos langen Tourbusfahrten in eine Flasche pinkeln zu können". | |
| Zentrale Themen sind die immer wiederkehrende Infragestellung technischer | |
| Fähigkeiten, nervige Zusammenstöße mit männlichen Mitarbeitern, ökonomische | |
| Ungleichheiten, die schwierige Vereinbarkeit von Privat- und Berufsleben | |
| und die Reduktion auf Äußerlichkeiten. Sara Magenheimer, Perkussionistin | |
| und Sängerin des experimentellen Popduos Woom, ärgert sich über das extreme | |
| Interesse an den Bühnenoutfits von Frauen, wohingegen die Kleidung von | |
| Männern quasi unsichtbar sei. Auch das Körpergewicht, sagt die | |
| Multiinstrumentalistin und Art-Garfunkel-Bandkollegin Maia Sharp | |
| stellvertretend für viele KollegInnen, stehe bei Frauen permanent im | |
| Zentrum des Interesses, während die Dickbäuchigkeit von Männern einfach | |
| ignoriert würde. | |
| Die Akustikgitarristin Cynthia G. Mason hingegen beobachtet, dass Frauen | |
| zwar mittlerweile sehr viel selbstbewusster mit ihren musikalischen | |
| Fähigkeiten umgingen, trotzdem aber noch unter einem größeren Druck | |
| stünden, ihre Sexualität strategisch einzusetzen. | |
| Und Jessie von der Emo-Tronic-Band Public Radio vermutet sogar, dass Frauen | |
| heute viel stärker als Popsexsymbole vermarktet würden als noch in den | |
| 1960ern und 70ern. | |
| Auf die hiesige Situation angesprochen, sagt Sandra Grether, früher Parole | |
| Trixi, jetzt Doctorella, ganz trocken: "Das Aussehen schwebt über allem, | |
| aber auf eine sehr subtile Weise." Und weiter: "Dass Kerstin, eine unserer | |
| Hauptsängerinnen, blond und klein ist, bringt Publikum und Kritiker | |
| gespenstisch automatisch dazu, unsere gitarren-und songwriterorientierte | |
| Musik mit Lady Gaga und Madonna abzugleichen. Das ist zwar schmeichelhaft, | |
| weil wir die gut finden, aber wir würden etwas ganz Profanes wie einen | |
| Tocotronic-Vergleich eigentlich logischer finden. Aber es ist ganz banal: | |
| Die Leute überlegen sich nur, wie sieht die Person aus auf der Bühne – die | |
| hören das Aussehen". | |
| Die unzulässigen Vergleiche mit anderen Musikerinnen ausschließlich | |
| aufgrund des Geschlechts kennt auch Emily Neveu (unter anderem Calico | |
| Horse). Die musste sich oft darüber wundern, dass sie auf Tour mit anderen | |
| Frauenbands auftreten sollte, ohne dass es irgendeinen gemeinsamen | |
| musikalischen Nenner gegeben hätte. Bei ihren Liveauftritten bemerkte Julie | |
| Cafritz von der New Yorker Noiseband Free Kitten schon von Anfang an, dass | |
| die Tontechniker ihre Gitarre routinemäßig leiser als die Instrumente | |
| männlicher Musiker einstellten – und zwar nicht nur bei ihr, sondern bei | |
| allen Musikerinnen, sodass Frauenbands einfach generell leiser klangen als | |
| Männerbands. | |
| Diebischer Spaß | |
| Die Strategie des queeren Dance-Pop-Trios MEN besteht daher auch darin, | |
| explizit mit Produzentinnen und Technikerinnen zusammenzuarbeiten, sagt die | |
| Gitarristin Ginger Brooks Takahashi. Die Berliner DIY-Elektro-Musikerin | |
| Krawalla (Räuberhöhle) ist froh, "dass es glücklicherweise immer mehr | |
| Frauen im Technikbereich gibt. Und die Typen, die mir (selbst nach bald 350 | |
| Konzerten weltweit) immer noch erklären wollen, wie ich das Mikro halten | |
| soll, wird es immer geben. Mir macht es oft diebisch Spaß zu beobachten, | |
| wie sie die Quelle des Rauschens stundenlang suchen, bis man sie irgendwann | |
| erlöst und ihnen sagt, dass sie einfach nur die Erdung bei der D.I. Box | |
| einschalten sollen." | |
| Weniger spaßig geht es allerdings bei den knallharten wirtschaftlichen | |
| Fragen zu. Während die Folkmusikerin Janis Ian einräumt, dass sie | |
| mittlerweile immer mehr technischen Bühnenmitarbeiterinnen begegne, liege | |
| die ökonomische Entscheidungshoheit immer noch in eindeutig männlicher | |
| Hand: "Es gibt immer noch keine Chefin eines großen Labels oder Verlags." | |
| Laut einer Statistik der deutschen Künstlersozialkasse verdienen | |
| Musikerinnen unter 30 in Deutschland jährlich im Schnitt knapp 9.000 Euro | |
| und erzielen in allen Altersgruppen durchschnittlich insgesamt fast 3.000 | |
| Euro weniger als ihre männlichen Kollegen (9.834 versus 12.578 Euro, | |
| Statistik vom 1. Januar 2010). Krawalla zieht daraus ein ziemlich | |
| desillusionierendes Fazit: "Ich kann es mir eigentlich nicht mehr leisten, | |
| Musik zu machen. Es wird geradezu verlangt, dass Lieder gratis im Netz | |
| erhältlich sind und du als Musikerin ständig ,Solikonzerte' spielst, | |
| besonders, wenn du auch nur ein Stäubchen politischen Anspruch hast. Das | |
| erweckt dann den Eindruck, dass man alles hobbymäßig vor sich hin machen | |
| kann. Dass es aber auch Geld kostet, Musik zu produzieren und zu | |
| veröffentlichen, ist den wenigsten bewusst. So funktionierts aber leider | |
| nun mal im Kapitalismus. Auch eine linke Bäckerin muss ihre Brötchen | |
| verkaufen." | |
| Beziehungsschlager | |
| Da ist es sicher kein Zufall, dass Musikerinnen, wie die Jazzsängerin | |
| Tierney Sutton feststellt, häufiger kinderlos bleiben als ihre männlichen | |
| Kollegen – ein aufreibender (Tour-)Alltag und die Jagd nach Geld lassen | |
| sich eben leichter vereinbaren, wenn jemand zu Hause klaglos die | |
| Fürsorgearbeit übernimmt, was nach wie vor meistens der Job der Frauen ist. | |
| Und so klingt auch Sandra Grethers abschließendes Urteil eher ernüchternd: | |
| "Männer hierzulande pflegen gern das progressive Bild von sich, dass sie | |
| Frauen, die Musik machen, ernst nehmen, so wie sie glauben, dass sie sich | |
| um die Kinder kümmern und im Haushalt helfen. Weil es zum guten Ton gehört. | |
| Wenn man sich aber anschaut, wer auf den großen Festivals seit hundert | |
| Jahren spielt, dann sind es doch nach wie vor männliche Musiker. Im Radio | |
| hört man allerdings zu 90 Prozent weibliche Stimmen. Das ist ein | |
| interessanter Widerspruch und lässt darauf schließen, dass Frauen nach wie | |
| vor keine Rockmusik machen sollen, sondern irgendwas Hochproduziertes im | |
| Studio. Die Frau als Muse und fleißiges Lieschen, das Beziehungsschlager | |
| singt, der Mann als Genie und Rebell. Da sehe ich wenig von einer | |
| Veränderung der Geschlechterstereotypen, leider." | |
| Camilla Ingr von der All-Girl-Band Pony Up! versucht, trotz allem humorvoll | |
| zu bleiben, und rät Kolleginnen, großzügig, nett und vor allem vorsichtig | |
| im Umgang mit den Medien zu sein - der einzige denkwürdige Tipp, den sie | |
| jemals bekommen habe, von der Mutter eines Bandkollegen, sei nämlich nicht | |
| besonders hilfreich gewesen. Er lautete: "Sing aus deinem Arschloch!" | |
| 11 Aug 2010 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://www.npr.org/ | |
| ## AUTOREN | |
| Sonja Eismann | |
| ## TAGS | |
| Feminismus | |
| Feministinnen | |
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