# taz.de -- Tourismus und Städtetod: Dann war’s das mit Italien | |
> Spello ist eine wunderschöne kleine Stadt in Umbrien – und geht langsam, | |
> aber sicher vor die Hunde. Warum das so ist, erklärt einer ihrer | |
> Bewohner. | |
Bild: Wenn es so ist, muss sich der Städtetourismus wohl was anderes überlegen | |
Spello taz | Das schöne Italien, das „Bel Paese“, ist ein fragiles Stück | |
Erde, eine vergleichsweise kleine Landzunge, von Meeren umspült, sehr | |
erdbebengefährdet und mit zwei aktiven Großvulkanen versehen. Seinen | |
Reichtum an Kunstschätzen verdankt es der Lage an der Schnittstelle von Ost | |
und West, Süd und Nord, aber nicht zuletzt auch der Präsenz des Vatikans | |
wie den zahlreichen Invasionen von den Goten über die Araber bis zu den | |
Normannen. Architektur, Malerei und Bildhauerei, Musik und Essen und Wein – | |
sie formen zusammen mit Sonne und Meer (und mit der zweifellos grundbösen | |
und verächtlichen Mafia, sagen manche) den Charakter des Landes und seiner | |
Bevölkerung. | |
Ein kleines Land – kleiner als Deutschland, nur halb so groß wie Frankreich | |
oder Spanien, doch Rekordhalter mit 54 [1][Unesco-Welterbe-Stätten]. Ein | |
Land mit 8.000 Gemeinden, von denen nur 45 mehr als 100.000 Einwohner haben | |
und nur zwei – Rom und Mailand – Millionenstädte sind. Den Lebensnerv | |
Italiens bilden Kunst-Städtchen, in denen die authentische Schönheit | |
bewahrt geblieben ist, die Bräuche, die Dialekte, die Feste. Sie stehen in | |
ihrer Fragilität im Kontrast zur oft wilden, schroffen Landschaft des | |
Gebirgszugs Apennin, der das Land durchläuft. | |
Diese Städtchen verändern sich seit einiger Zeit, sie sind gefährdet wie | |
Rom, Florenz oder Venedig. Ihre Zerbrechlichkeit macht sie schön, aber ihre | |
Schönheit muss auch beständig und aufwändig gepflegt werden. Doch in den | |
letzten Jahrzehnten hat ein Prozess der Entvölkerung stattgefunden – und | |
dafür gibt es im Wesentlichen drei Gründe: | |
Vor allem im Süden und in den immer noch verkehrstechnisch abgelegenen | |
Gebieten der Mitte sind die Leute in die großen Städte oder ins Ausland auf | |
der Suche nach Arbeit abgewandert. Das hat auch dazu geführt, dass die Zahl | |
der nur zeitweise bewohnten Häuser stark angestiegen ist, denn die | |
Abgewanderten kommen zurück, aber eben nur in den großen Ferien sowie zu | |
den Festtagen Ostern und Weihnachten. | |
## Schöne Altbauten mit Außenklo | |
Der zweite Grund ist in gewisser Weise banaler. Die Leute suchen die | |
Bequemlichkeit in der Nähe, sie verlassen die alten Häuser in den | |
Stadtzentren, um – seit Beginn des Booms der sechziger Jahre – sich neue | |
Behausungen mit allem Komfort zu errichten. Die alten Häuser liegen in der | |
Höhe, sind mühsam zu Fuß und durch die engen Gassen mit dem Auto oft gar | |
nicht zu erreichen, es gibt keine Garagen, keine Gärten, manchmal noch kein | |
fließend warmes Wasser, kein WC in der Wohnung. Die wunderschönen | |
Steinhäuser liegen zudem weit weg von den Einkaufszentren, die wiederum | |
extra für die neu entstandenen Vorstädte errichtet wurden. | |
Der dritte Grund für die Entvölkerung ist viel jüngeren Datums und hat mit | |
den Wandlungen der Tourismusindustrie zu tun, die immer neue | |
Verwertungsmöglichkeiten sucht und dabei zerstört, wovon sie eigentlich | |
profitieren möchte. Denn es sind eben die schönsten und am sorgfältigsten | |
restaurierten historischen Ortschaften, die – sobald sie erst mal ihrer | |
früheren Bewohner verlustig gegangen sind – sich mit reichen | |
Zweitwohnungskäufern aus dem Ausland füllen, besonders aus den USA und aus | |
Nordeuropa. Die heimischen Immobilienagenturen rühren dafür auch fleißig | |
die Trommel, die Preise schießen dementsprechend in die Höhe, was wiederum | |
dazu führt, dass die Einheimischen nun tatsächlich gute Gründe haben, die | |
Stadtzentren zu verlassen: Obwohl junge Leute durchaus ein paar Ideen | |
hätten, wie sich etwas Neues in alten Gemäuern verwirklichen ließe. | |
Ich weiß ein bisschen was darüber, nicht so sehr als Wissenschaftler, | |
sondern als Bewohner. Ich arbeite in Perugia und lebe in Spello, einem sehr | |
alten, wunderschönen Städtchen in Umbrien, nicht weit von Assisi. Gut 8.000 | |
Einwohner, die meisten außerhalb der alten Mauern lebend. | |
Und auch ich wohne in der Peripherie, ich habe dort eine Wohnung geerbt und | |
habe deswegen vorerst drauf verzichtet, mir etwas innerhalb des römischen | |
Befestigungsrings zu suchen. Aber ich liebe es, jetzt, da die schönste | |
Jahreszeit begonnen hat, im Zentrum spazieren zu gehen, ich fühle mich | |
dabei fast wie ein Tourist im eigenen Leben. Und wenn ich so immer weiter | |
auf der Hauptstraße in die Höhe steige, dann ist es nicht schwer, die | |
Veränderungen zu notieren, die Spello erfahren hat: Geschäfte des täglichen | |
Bedarfs gibt es praktisch nicht mehr, dagegen im Übermaß alles an Souvenirs | |
und Service für einen Rein-und-raus-Tourismus. In den Läden, die noch etwas | |
anbieten, was die verbliebenen Bewohner gebrauchen könnten, müssen die sich | |
eher als Gäste fühlen, wenn sie neben den Wasserflaschen und der sehr guten | |
Wurstspezialität „Cojoni di mulo“ (die man aber auch nicht jeden Tag und | |
ausschließlich essen muss) endlich das gefunden haben, was sie eigentlich | |
brauchen. Die Stadt ist – oder ist dabei, es zu werden, für die Optimisten | |
gesprochen – nur noch ein Schaufenster beziehungsweise ein Museum. Im | |
benachbarten Assisi kann man das bereits in Vollendung erleben. | |
## Im Museum wohnen | |
Es sind allerdings nicht nur die Leute, die nicht in einem Museum wohnen | |
wollen, die mit ihrer Entscheidung, wegzuziehen, zur Entkernung des | |
Zentrums beitragen. An einer aktuellen Debatte über Schulstandorte zeigt | |
sich, dass viele selbst vorübergehend nicht mehr in die Altstadt wollen. | |
Nicht wenige Eltern in Spello fordern eine Verlegung der Schulen aus der | |
Innenstadt in die tatsächlichen Wohnquartiere, das sei doch viel bequemer. | |
Die Bank, die vom Gros der Ersparnisse der Bürgerinnen und Bürger Spellos | |
profitiert, hat schon lange die alten Pforten geschlossen und ist vor die | |
Mauern gezogen. | |
Was aber bedeutet das alles? Es bedeutet, dass ein lebendiger, gebrauchter, | |
benutzter und sich natürlich abnutzender Organismus, ein komplexes | |
künstlerisch-kulturelles Gebilde auf eine rein kommerzielle und akademische | |
Dimension reduziert wird. Davon profitieren letztlich nur wenige und oft | |
gerade nicht die, die noch die Stellung im Zentrum halten und sozusagen | |
kostenlos die Staffage fürs Business bieten. | |
Spello ist dabei kein Einzelfall, sondern typisch für das Schicksal, das | |
weite Teile des in den kleinen Städten bewahrten kulturellen Erbes Italiens | |
erleiden. Das wird sich zweifellos so fortsetzen, solange die Marktlogik | |
nicht auf einen politischen Gestaltungswillen trifft, der eine solche | |
Entwicklung zu stoppen versucht. Wenn es so weitergeht, dann wird dieser | |
Reichtum der kleinen Zentren nur noch für wenige zur Verfügung stehen, die | |
ihn von ihrem realen und von ihrem kulturellen Kapital her sich gönnen | |
wollen und können. Dann aber finden in Spello und anderswo keine realen | |
Begegnungen mehr statt. Statt Lebensorte wird man Geisterstädte haben. | |
Kann ein nachhaltiger, ein sanfter Tourismus diese Zerstörung einer | |
jahrtausendealten Kultur stoppen? Es liegt zunächst an den | |
Stadtverwaltungen, die Transformation zu gestalten. Die Besucher müssen zur | |
Ressource der Mehrheit der Autochthonen werden, dürfen nicht zu ihrer | |
Verdrängung führen. Und hier ist die große Frage, ob die Qualität der | |
aktuellen politischen Klasse Italiens, gerade in den kleinen Städten, | |
dieser Herausforderung gerecht werden kann. Denn wenn sie es nicht wird, | |
dann wird das Herz des Landes bald nicht mehr wiederzuerkennen sein – und | |
damit über kurz oder lang das ganze „Bel Paese“. | |
Aus dem Italienischen von Ambros Waibel | |
23 Jul 2019 | |
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## AUTOREN | |
Marco Damiani | |
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