# taz.de -- Streit um Holocaust-Gedenkstätte in Kiew: Babyn Jar 3.0 | |
> In Kiew entsteht das Babyn Jar Holocaust Memorial Center. Um das | |
> künstlerische Konzept von „Dau“-Regisseur Ilja Chrschanowski gibt es | |
> Streit. | |
Bild: In der Ukraine fanden Massenexekutionen statt, etwa im Dorf Iwanohorod am… | |
Um Babyn Jar wird erbittert gestritten. | |
Vor 1991 war das [1][anders]. „Über Babij Jar, da redet der Wildwuchs, das | |
Gras“, dichtete Jewgeni Jewtuschenko 1961. „Das Schweigen rings schreit.“ | |
Damals war nach den antisemitischen Kampagnen kurz nach dem Zweiten | |
Weltkrieg jede öffentliche Erinnerung an die „Ukraine ohne Juden“ | |
(Grossman, 1943) verbannt. 1976 entstand das erste sowjetische Denkmal in | |
Babyn Jar – gewidmet ausschließlich „allen Sowjetbürgern, Kriegsgefangenen | |
und Offizieren der Sowjetarmee, die von deutschen Faschisten in Babij Jar | |
erschossen wurden“. | |
Mit 2,5 Kilometer Länge früher eine der größten Schluchten der Stadt, ist | |
Babyn Jar heute ein [2][Park] in Kiew. | |
Hier ging es schneller zu als später in Auschwitz. In Babyn Jar und an | |
anderen Orten der heutigen Ukraine entfaltete sich nach dem Überfall auf | |
die Sowjetunion am 22. Juni 1941 [3][mit dem Vernichtungskrieg auch der | |
„Holocaust durch Kugeln“], nachdem zwei Jahre zuvor Berlin und der Kreml | |
Ostmitteleuropa gewaltsam aufgeteilt hatten. | |
In 36 Stunden wurden am 29. und 30. September 1941 laut Polizeibericht | |
33.771 jüdische Menschen erschossen. 33.771, geteilt durch 36 und verteilt | |
auf die Schluchtlandschaft, vor den Augen und Ohren von Nachbarn, von | |
[4][ganz normalen Männern] der SS und der Wehrmacht. | |
Die Opfer lagen übereinander. In Stapeln. Daneben meist die Kleidung. Bis | |
1943 wurden hier auch Angehörige anderer Opfergruppen getötet: Sinti und | |
Roma, Homosexuelle, Menschen aus Psychiatrien, Kriegsgefangene, vereinzelt | |
Fronten Wechselnde aus der „Organisation Ukrainischer Nationalisten“. Circa | |
100.000 Menschen – davon geschätzt knapp 70.000 aufgrund jüdischer Herkunft | |
– wurden in der Schlucht umgebracht. | |
Entlang des Parks führt heute die Olena-Teliha-Straße, zu Ehren einer 1942 | |
in der besetzten Hauptstadt ermordeten ukrainischen Nationalistin. | |
[5][Teliha] wirkte im September/Oktober 1941 an einer Zeitung mit, die | |
stark antisemitisch orchestrierte und das Verschwinden von Juden aus der | |
Stadt feierte. Bevor sich ein Teil der Organisation ukrainischer | |
Nationalisten von der NS-Besatzungsmacht abspaltete, fuhr Teliha in die | |
besetzte Hauptstadt, wo sie später umgebracht wurde. | |
Trotzdem entstand 2017 für sie ein Denkmal in Babyn Jar, auf Initiative des | |
später suspendierten Direktors des staatlichen Instituts für Nationales | |
Gedächtnis. Angeblich sei Teliha in Babyn Jar ermordet worden, hieß es, | |
wobei forschende Historiker*innen keine Belege für ihre Ermordung gerade an | |
diesem Ort gefunden haben. | |
Im Park stehen Denkmäler, Kreuze, Symbole nebeneinander, errichtet oft | |
durch private Initiativen, durch die Bezugnahme auf den Ort spannungsreich | |
verflochten. Ein Sinnbild für die polyfone Erinnerungslandschaft, infolge | |
der Millionen einheimischer Opfer. | |
## Illustre Förderer | |
Der Skandal jetzt war im September 2016 nach der Stiftungsgründung für das | |
Babyn Yar Holocaust Memorial Center (BYHMC) nicht absehbar. Der | |
Aufsichtsrat ist prominent besetzt: darunter Natan Scharanski, Joe | |
Lieberman, Joschka Fischer, Aleksander Kwaśniewski, die Brüder Klitschko, | |
ein ukrainischer Rockstar und ein Oberrabbiner, dazu Oligarchen und | |
Kunstförderer aus der Ukraine und aus Russland wie Michail Fridman, | |
Begründer des Russisch-Jüdischen Kongresses und Förderer des umstrittenen | |
wie gefeierten Regisseurs Ilja Chrschanowski. | |
Bis zu Chrschanowskis Einstieg in die künstlerische Leitung des Babyn Yar | |
Holocaust Memorial Centers Ende 2019 hatte es in Fachkreisen Polemiken über | |
die Integration von Opfergruppen in ein Narrativ gegeben, das unter der | |
Leitung des niederländischen Historikers Karel C. Berkhoff vom Beirat | |
ausgearbeitet worden war. Einige Stimmen äußerten nun Unbehagen an der | |
Förderung mit russischem Geld in Zeiten des Krieges. Außerdem kam Kritik | |
aus dem Umfeld des konkurrierenden [6][Babyn-Jar-Projekts]. | |
Dieses stärker national besetzte und konzipierte Projekt plant ebenfalls | |
eine (virtuelle) Ausstellung zu Babyn Jar. Es wird stärker von staatlichen, | |
städtischen und staatsnahen Institutionen wie dem Museum für | |
Stadtgeschichte, dem Ukrainischen Institut für Nationales Gedächtnis, der | |
Initiative Ukrainisch-Jüdische Begegnungen und dem Ukrainian Center for | |
Holocaust Studies getragen. | |
## „Authentische“ Inszenierung? | |
Seit diesem April hat sich eine Front quer durch mehrere Lager gebildet, | |
die Chrschanowskis Absetzung als künstlerischer Leiter des BYHMC fordert. | |
Während noch die Debatte um die Umbenennung der Metrostration anfing, waren | |
der Name der künstlerischen Leitung und ihre Ideen für die Gedenkstätte | |
bekannt gegeben worden – kurz nach dem Film „[7][Dau: Natascha]“, der auf | |
der Berlinale für #MeToo- sowie Gewaltdebatten sorgte. | |
In dem Film ließ Chrschanowski Realität, Fiktion und Experimente an | |
Amateur*innen verschmelzen, um das totalitäre Sowjetsystem „authentisch“ zu | |
inszenieren. Im April hat der ukrainische Ombudsmann für Kinder die | |
Staatsanwaltschaft eingeschaltet, da Kinder aus ukrainischen Waisenhäusern | |
zu sehen waren. | |
Einige halten das BYHMC für ein trojanisches Pferd Putins. | |
Nach Durchsickern der Namen, Kündigungen und Ideen wurde die Kritik laut, | |
dass ohne Beteiligung der Gesellschaft und des Staates, hinter | |
verschlossenen Türen das Projekt eines Holocaust-Disneylands geplant sei. | |
Den Begriff prägte der ehemalige Ausstellungsleiter, nachdem der | |
wissenschaftliche Leiter Berkhoff zurückgetreten war. Er könne aus | |
ethischen Gründen im Sinne der Internationalen Gedenkstätten-Charta nicht | |
mehr mitwirken, sagte dieser. | |
Die zirkulierenden Namen und Ideen haben für Unmut gesorgt, aber auch für | |
eine Debatte über Geschichtspolitik und -ethik in der Ukraine. Nach | |
Chrschanowskis – angeblich später verworfener – Idee sollte sich das | |
Publikum des Museums die Rolle von Opfern, Tätern oder Mitläufer*innen | |
auswählen, mit dem Versprechen, dass sie nach Computeranalysen ihrer | |
Gesichtsprofile und Eindrücke ihr historisches Doppelgängerprofil auf der | |
Grundlage der Bilder und Daten kennenlernen, und sich selbst. | |
Einmal soll Chrschanowski vorgeschlagen haben, Babyn Jar umzugraben, | |
woraufhin erwidert worden sei, dass man den Ort nicht umgraben könne. | |
Darauf hätte er – so die in die Öffentlichkeit getragenen Zitate – gemein… | |
dass man nicht umgraben müsse, nur die Idee öffentlich machen. | |
Diese Irritationen sorgten dafür, dass die Kritiken an der Sache und Person | |
mit Vorstellungen über Chrschanowskis Filme verschmolzen. Aus der | |
Zivilgesellschaft wie aus der Fachwelt ergingen ein Aufruf an den | |
(Minister-)Präsidenten und Bürgermeister Vitali Klitschko zur Absetzung | |
Chrschanowskis, es hieß, ein privates Projekt an einem solchen Ort sei | |
nicht tragbar. Ebenso werden Zweifel an seiner fachlichen Eignung und an | |
ethischen Aspekten geltend gemacht. | |
## Serhij Loznytsja ist auch dabei | |
Zu Chrschanowskis Verteidigung warf [8][Serhij Loznyzja], der an einem Film | |
über Babyn Jar arbeitet, den anderen sowjetische Denunziationsmethoden vor. | |
Loznyzjas Projekt ist nun in das BJHMC integriert. | |
Während Chrschanowskis Filme in Russland verboten sind, seine Mutter aus | |
der Ukraine stammte und zufällig jüdischer Herkunft ist, der Oligarch | |
Fridman in Lwiw zur Welt kam und hier das renommierte Leopolis Jazz Fest | |
seit 2011 fördert, wird die Leitung teils als Fremdkörper im nationalen | |
Gedächtnisraum gesehen, der nach Osten hin zu schützen sei. Die Jerusalem | |
Post titelte, Chrschanowski, der nicht jüdisch sei, plane ein | |
hyperrealistisches Holocaust-Disneyland. | |
Inzwischen sucht das BJHMC neue Kommunikationsstrategien. Die Stiftung ist | |
nun im Transparenzregister der EU registriert. Am 11. Juni fand eine | |
Zoom-Konferenz des Aufsichtsrats mit Projektpräsentationen statt. Die | |
Konferenz ist online [9][einsehbar]. Am Ende der affirmativen Runde | |
erklärte Klitschko, demnächst solle auf Anregung der Stiftung ein Vertreter | |
aus dem Präsidentenamt im Aufsichtsrat sitzen. | |
Der Vorsitzende Scharanski betonte, das Projekt bleibe nichtstaatlich. | |
Klitschko berichtete, dass sogar aus deutschen Medien Informationsangriffe | |
kämen. Scharanski resümierte, die Kritik, es handele sich um ein | |
Holocaust-Disneyland, sei widerlegt worden. Chrschanowski gab sich | |
versöhnlich. Er sei missverstanden worden, vorläufige Ideen seien schnell | |
publik geworden. Er wolle ein neues Kunst- und Erinnerungskonzept kreieren. | |
In der Sprache der nächsten Generationen. | |
Der neue Direktor, Maksym Jakover, sagte, die Kritiken kämen aus dem Umfeld | |
des konkurrierenden Projekts. An der Ausarbeitung des historischen | |
Narrativs der Stiftung war allerdings der zurückgetretene Berkhoff | |
federführend. | |
## Von Dichotomien lösen, aber wie? | |
Zum Stiftungstreffen im September wurde der französische Schriftsteller | |
[10][Jonathan Littell] eingeladen, der mit seinem Roman „Die Wohlgesinnten“ | |
die Literaturkritik aus der Perspektive eines promovierten, homosexuellen | |
SS-Täters polarisiert hatte: „Naive Einfühlungshermeneutik“ warf Micha | |
Brumlik seinen Erkundungen des Bösen vor. | |
Auch Chrschanowski betont, man müsse sich von Dichotomien der guten Opfer | |
und der bösen Täter lösen. Noch unklar ist nach den Präsentationen im Juni, | |
wie dieser Gemeinplatz umgesetzt werden soll. Wie lässt sich diese | |
Dichotomie jenseits der immersiven Effekte, mit der gleichsam betonten | |
Empathie für die Opfer, aufbrechen? In der Präsentation zu den „Gerechten | |
unter den Völkern“ ist der hagiografische Begriff „Helden“ gefallen. | |
## Vorbild: #evastories | |
Das BJHMC hat den Anspruch, die größte Holocaustgedenkstätte Osteuropas | |
oder gar weltweit zu werden. In der Sitzung schlug Chrschanowski virtuelle | |
Punkte vor, um Opfer abzubilden, nach dem Vorbild eines russischen sozialen | |
Netzwerks zur Geschichte von 1917 oder von [11][#evastories]. | |
„Evas Stories“ kann man folgen, nicht den Storys von Nazis. Das | |
[12][project1917.ru] will die ganze Gesellschaft eines Landes im Umbruch | |
der Februar- und Oktoberrevolution abbilden. Wie genau soll das für die 36 | |
Stunden am Steinbruch in Babyn Jar oder auch die Zeit davor und danach | |
realisiert werden? Stellt das Netzwerk die Kontexte dar und her? | |
Formen der Erinnerung können sich ändern. Die Kritik entzündet sich aber | |
auch am Verhältnis zwischen (trans-)nationalem Erinnerungsort, | |
crossmedialen Botschaften, Sachkunde, Kunst, (politischem) Kapital und | |
Transparenz. | |
Der Streit ist nicht zu Ende, aber das Schweigen. | |
25 Jun 2020 | |
## LINKS | |
[1] /75-Jahre-Nazi-Massaker-von-Babi-Jar/!5340549/ | |
[2] https://www.google.com/maps/@50.4715764,30.4488102,481m/data=!3m1!1e3 | |
[3] https://www.jpost.com/opinion/the-fight-for-historical-truth-about-the-holo… | |
[4] /Stefan-Kuehl-zur-Soziologie-des-Holocaust/!5029212 | |
[5] http://uamoderna.com/images/blogy/Radchenko/Teliha%20monument/4.jpg | |
[6] http://memory.kby.kiev.ua | |
[7] /metoo-auf-der-Berlinale/!5666717/ | |
[8] /Sergei-Loznitsa-ueber-seinen-Film-Donbass/!5529242/ | |
[9] http://babynyar.org/en/byhmc-news/posts/news/zasidanna-nagladovoi-radi-blag… | |
[10] /Die-Wohlgesinnten-von-Jonathan-Littell/!5185828/ | |
[11] /Erinnerungskultur-bei-Instagram/!5592218/ | |
[12] https://www.deutschlandfunk.de/russische-revolution-als-soziales-netzwerk.… | |
## AUTOREN | |
Felix Heinert | |
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