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# taz.de -- Soziologe über Polizei in den USA: „Polizisten sind Gewaltarbeit…
> Die Polizei muss aus dem Alltag der Menschen rausgehalten werden, sagt
> Alex Vitale. Der Soziologe fordert zudem eine reduzierte Bewaffnung.
Bild: Schwerbewaffnete Polizisten bei Protesten in Ferguson, Missouri, im Novem…
taz: Herr Vitale, warum ist die Polizei in den USA so brutal?
Alex Vitale: Polizisten sind überall Gewaltarbeiter. Die zusätzliche
Gewalttätigkeit der amerikanischen Polizei im Verhältnis zu Europa hat
historische Gründe. Der amerikanische Kolonialismus und die amerikanische
Sklaverei haben [1][zu Hause stattgefunden]. Europa hat Kolonialismus und
Sklaverei exportiert. Der amerikanische Kolonialismus war immer verknüpft
mit Regimen von intensiver Ausbeutung. Aus denselben Gründen ist die
amerikanische Gesellschaft auch gewalttätiger.
„Gewaltarbeiter“?
Die Polizei hat die Genehmigung, Gewalt einzusetzen. Es ist ein zentrales
Element ihrer Arbeit. Und es ist sowohl durch ihre Ausbildung als auch
durch das Gesetz abgestützt. Das unterscheidet die Polizei von allen
anderen Teilen der Regierung.
Da ist aber das Militär. In den letzten Wochen wollten Politiker in den USA
es immer wieder gegen Demonstranten einsetzen.
Es gab viel Gerede darüber. [2][Und in einigen Fällen wurden auch
Nationalgardisten benutzt]. Aber das blieb eine extreme Ausnahme.
Normalerweise wird das Militär nicht im Inneren eingesetzt. Das verhindern
unsere Gesetze. Für Amerikaner ist die Polizei die einzige Behörde, die
autorisiert ist, Gewalt auszuüben.
Wie kommt es, dass die Polizei in den USA auch in medizinischen und
sozialen und schulischen Notfällen eingesetzt wird?
Unsere Politiker fühlen sich einer Austeritätspolitik verpflichtet. Diese
Politik hat weite Teile des sozialen Netzes finanziell ausgehöhlt und
stattdessen Subventionen an Teile der Wirtschaft umgeleitet, die ohnehin
erfolgreich sind. Die Hoffnung ist, dass der Wohlstand unten ankommt
(Trickle Down Effect). Stattdessen hat diese Austeritätspolitik massenhaft
Probleme erzeugt wie Obdachlosigkeit, Nichtbehandlung psychisch Kranker,
Drogenmissbrauch und Schulen, die versagen. Diese Probleme werden der
Polizei übergeben. Nicht etwa, damit sie sie löst, sondern damit der
Prozess von Einschnitten in soziale Dienstleistungen weitergehen kann.
Gab es einen Wendepunkt, an dem die USA begonnen haben, Sozialarbeit an die
Polizei zu delegieren?
Der Beginn des [3][„Drogenkriegs“] auf nationaler Ebene – der „War on
Drugs“ unter Präsident Richard Nixon – spielte eine große Rolle. Damals
machte die Bundesregierung die Strafverfolgung zu einer nationalen Sache.
Damit wollte sie weiße Wähler in den Südstaaten ansprechen, die zuvor
demokratisch gewählt hatten. Im Gefolge der Bürgerrechtsbewegung schürte
sie Rassenfeindlichkeit, um neue Wähler für die Republikaner zu gewinnen.
Damit begann der Prozess der Übergabe sozialer Probleme an die Polizei, an
dem sich sowohl Demokraten als auch Republikaner beteiligten. Später
folgten weitere Schritte: das Gesetz zur Verbrechensbekämpfung von 1994
[das unter Präsident Bill Clinton u. a. das Strafmaß für nicht gewalttätige
Drogenvergehen drastisch erhöhte; Anm. d. Red.] und die Intensivierung der
Anti-Terror-Polizeiarbeit nach 9/11.
Ist sanfte Polizeiarbeit in einer brutalen, kapitalistischen Gesellschaft
möglich?
Wenn unsere Politiker der Polizei sagen: Führt Krieg gegen Verbrechen,
Drogen, Gangs und Terror, dann geht das nicht sanft, freundlich und
respektvoll ab, sondern es ergibt Gewalt. Und es bedeutet, dass die
Probleme von armen und meist nichtweißen Communitys besonders betroffen
sind. Die Lösung ist nicht, Polizisten zu Sozialarbeitern zu machen.
Sondern so viele Probleme wie möglich in die Hände von anderen
Institutionen statt in die der Polizei zu geben.
Wie lässt sich das in den USA schaffen?
Wir müssen damit anfangen, dass wir das Ausmaß der Polizeiarbeit
reduzieren. Wir müssen die Polizei aus den Bereichen verdrängen, wo sie mit
Problemschülern, Obdachlosen oder psychisch Kranken zu tun hat. Wir müssen
die Polizei aus dem Alltagsleben der Leute herausholen, die Zahl der
polizeilichen Interaktionen reduzieren. Als Nächstes müssen wir die
militärische Bewaffnung reduzieren. Außerdem haben wir Tausende von
paramilitärischen Polizeieinheiten, die mitten in der Nacht die Haustür von
Leuten durchbrechen und Schießereien auslösen können. Das müssen wir
beenden. Und dann müssen wir an die größeren Probleme von Amerikas
gewalttätigem Erbe herangehen. Zum Glück schrumpft die Kriminalität
insgesamt in den letzten 25 bis 35 Jahren deutlich. Wir brauchen mehr
gemeindebasierte Antigewaltstrategien, das könnte die Kriminalität noch
stärker zurückdrängen. Auch das würde unser Zugreifen auf die Polizei
reduzieren.
Was sind gemeindebasierte Antigewaltstrategien?
Gewalt nimmt verschiedene Formen an – häusliche Gewalt, Jugendgewalt,
Gewalt, die mit Schwarzmärkten wie Sexarbeit, Drogen und Kleinkriminalität
zu tun hat. Wir brauchen verschiedene Strategien, um damit umzugehen. Für
häusliche Gewalt brauchen wir Unterstützungen für Familien. Die Leute
müssen jemanden außerhalb der Polizei haben, den sie in Krisen anrufen
können. Für die Opfer häuslicher Gewalt brauchen wir mehr Wege, damit sie
unabhängig von den Tätern leben können. Bei der Jugendgewalt brauchen wir
glaubwürdige Leute aus dem Inneren der Communitys, die eine eigene
Geschichte von Gewalt und Straßenleben haben und mit der jüngeren
Generation arbeiten können, um den Zyklus von Gewalt zu durchbrechen.
Die Polizei in den USA ist lokal organisiert. Ist das hilfreich?
Wir haben mehr als 18.000 unabhängige Polizeibehörden. Das beschränkt die
Möglichkeiten von Bundespolitik bei der Veränderung der Polizeiarbeit. Und
das ist einer der Gründe, weswegen wir gerade Hunderte von
dezentralisierten Kämpfen haben. Aber das Problem ist nicht die
Abwesenheit nationaler Standards. Viele Bundesstaaten haben Standards. Und
das macht nicht unbedingt einen Unterschied. Selbst wenn wir die Rolle und
die Intensität von Polizeiarbeit bedeutend reduzieren, brauchen wir immer
noch lokale Strategien. Denn die Herausforderungen für die öffentliche
Sicherheit sind je nach Ort unterschiedlich.
Wieso braucht die Polizei in den USA Militärgeräte, die für Kriege in
Übersee hergestellt werden?
Das ist eine lange Geschichte. Es gab schon im Ersten Weltkrieg eine starke
Zunahme der Polizeiarbeit. Aber in der modernen Ära beginnt das in den 90er
Jahren und es ist eng verknüpft mit dem Krieg gegen Drogen. In den 60er und
70er Jahren haben wir Einsatzkommandos mit Spezialwaffen bekommen. Es war
eine Strategie, radikalere politische Bewegungen zu kontrollieren, und war
zum Teil eine Antwort auf militante schwarze Befreiungsbewegungen wie die
Black Panthers und die Black Liberation Army. Aber es bietet der
Bundesregierung zugleich eine Möglichkeit, den Rüstungsunternehmen einen
großen heimischen Markt zu verschaffen. Nach 9/11 wurde das besonders
deutlich. Danach gab es Subventionen in Form von militärischen Geräten für
Polizeieinheiten an Orten, an denen es keine Terrorismusdrohung gab. Omaha
in Nebraska zum Beispiel und ländliche Gemeinden in Idaho brauchen kein
Geld für landminenresistente Vehikel.
Ein Blick in die Zukunft: Wie sollte die Polizei in den USA im Jahr 2025
aussehen?
Die Hoffnung vieler ist, dass wir es schaffen, die Ausgaben für die Polizei
bedeutend – etwa um 50 Prozent – zu reduzieren. Wenn die Gelder statt an
die Polizei an gemeindebasierte Institutionen gehen, können die Communitys
sicherer werden, als sie es heute sind. Um das zu schaffen, muss die
aktuelle Bewegung weitergehen.
Auch in den großen Städten, wo Demokraten regieren, ist es aber so, dass
die Bürgermeister zwar im Wahlkampf von mehr Kontrolle und weniger Geld für
die Polizei reden, aber nach ihrer Wahl den Polizeihaushalt aufstocken. Wo
sind die politischen Alliierten für die Forderung nach radikalen
Veränderungen bei der Polizei?
Die Politik in diesem Bereich verschiebt sich gerade. Es gibt noch jede
Menge zu tun, um eine Mehrheit zu bekommen. Aber wenn wir auf der
Nachbarschaftsebene überzeugen können, dass wir bessere Ideen für die
öffentliche Sicherheit haben als die bewaffnete Polizei, können wir auch
Stadträte und Bürgermeister gewinnen.
Sehen Sie Länder, die den richtigen Weg mit ihrer Polizei gegangen sind?
Niemand hat das komplett überdacht. Aber Portugal hat die Drogen
entkriminalisiert und die Polizei aus diesem Bereich abgezogen. Neuseeland
hat die Sexarbeit legalisiert. Und Europa hat keine Polizei an Schulen.
21 Jul 2020
## LINKS
[1] /Geschichte-des-Rassismus/!5694138&s=sklaverei/
[2] /Trumps-Vorgehen-gegen-Schwarze-Proteste/!5695921
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## AUTOREN
Dorothea Hahn
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