| # taz.de -- Solidarität in Krisenzeiten: Was nah geht, was fern bleibt | |
| > Die Bilder, wie Menschen in Italien von Balkonen singen, bewegen. Aber | |
| > wieso blieben die singenden Menschen von Wuhan vor ein paar Wochen | |
| > unbeachtet? | |
| Bild: In China war die Lage schon Anfang Februar sehr ernst, wie hier in Schang… | |
| Deutschland macht die Grenzen dicht, und ich muss lachen, irgendwie | |
| unpassend. Wie wenn es einen auf der Beerdigung kurz überkommt und man | |
| loslacht, obwohl der Anlass Ernsthaftigkeit fordert. Über geschlossene | |
| deutsche Grenzen muss ich lachen, weil sie nichts Neues sind. Deutschland | |
| hat schon lange geschlossene Grenzen – mal abgesehen von den politischen. | |
| In diesen Zeiten ist Abschottung sinnvoll, im Kleinen wie im Großen. | |
| Flatten the curve, den Ansteckungsprozess verlangsamen, Rückzug ins Innere. | |
| Und wenn es ein Inneres gibt, dann gibt es auch ein Äußeres und dann gibt | |
| es auch Grenzen, an denen man beides voneinander trennt, logisch. | |
| Auf Balkonen [1][in Neapel stehen Menschen und singen] zusammen gegen die | |
| Angst an und gegen die Ohnmacht. Der Akt an sich ist schön und wichtig und | |
| er sollte mich rühren. Ich bin aber nicht gerührt, sondern will jemandem | |
| ins Gesicht schreien. Leute teilen die italienischen Videos und schreiben | |
| „Nur in Neapel (Emojiherz) (italienische Flagge)!“, und ich weiß, mein Herz | |
| sollte jetzt warm werden vor Rührung, aber es tut weh. | |
| Nicht weil Menschen in Italien solidarisch sind, sondern weil Menschen in | |
| Deutschland mit singenden Menschen in Italien solidarischer sind als mit | |
| singenden [2][Menschen in China]. | |
| ## Wer entscheidet, was nah ist? | |
| Ich kenne diese Bilder schon, sie sind mehrere Wochen alt. [3][Da filmten | |
| Menschen in Wuhan aus Hochhausfenstern] heraus Szenen, in denen gemeinsam | |
| gesungen wird, einander Mut gemacht, sich beigestanden. Prinzipiell wie in | |
| Italien. Egal wo, der Akt an sich ist gleich schön und gleich wichtig. Dass | |
| mich eines berührt, während das andere mich wütend macht, hat nichts mit | |
| Ort und Zeit zu tun, sondern mit Wahrnehmung. | |
| Die Leute sagen, das sei nun mal so, so funktioniere der Mensch eben. | |
| Italien ist näher dran als China und was nah dran ist, berührt mehr. Ich | |
| finde das irgendwie unpassend. Wer entscheidet, was nah ist? Ich fühle mich | |
| Wuhan näher als denen, die mir Distanz erklären. Die Leute sagen, wir | |
| bräuchten doch gute Geschichten, gerade jetzt. Es sei doch kein Wettbewerb, | |
| wer zuerst gesungen oder für die 80-jährige Nachbarin eingekauft hat. | |
| Die Leute sagen, wir brauchen Solidarität, aber sie meinen Solidarität in | |
| Grenzen. Ich will wissen, wie Solidarität ihren Namen verdient hat, wenn in | |
| Griechenland Ventilatoren Kinder wegblasen, oder ein paar Tage nach Hanau | |
| wieder alles wie immer ist, oder wenn sich vor ein paar Wochen fast niemand | |
| nach meiner Familie in China erkundigt hat. | |
| Die Leute sagen, das sei Whataboutism, ich nenne es Ignoranz. „Wir können | |
| eben nicht alle retten“, ist oft eine runtergespulte Ausrede. | |
| Wahrscheinlich können wir nicht. Aber es macht einen Unterschied, ob wir es | |
| versuchen. Sonst bleiben Menschen mit anderer Nähe und Distanz auch hier | |
| immer irgendwie unpassend. Sonst bleiben deutsche Grenzen dicht – mal | |
| abgesehen von den politischen. | |
| 18 Mar 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://time.com/5802700/lockdown-song/ | |
| [2] /China-und-die-DDR/!5661401 | |
| [3] https://www.youtube.com/watch?v=t_PSSTP8ROg | |
| ## AUTOREN | |
| Lin Hierse | |
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