# taz.de -- Samtene Revolution in Prag: Totgesagte leben länger | |
> Vor dreißig Jahren: In Prag soll Stasi-Mitarbeiter Ludvík Zifčák das | |
> Regime retten. Seine Mission: eine Leiche darstellen. Doch das geht | |
> schief. | |
Bild: Der Anfang vom Neuen: Demonstrantin und Polizeikordon am 17. November 198… | |
PRAG taz | Auf der Prager Nationalstraße herrscht Festivallaune. Paare und | |
Pärchen, Gruppen von Freunden und Familien mit aufgeregt dreinschauenden | |
Teenagern im Schlepptau bevölkern den breiten Boulevard, der die Prager | |
Alt- von der Neustadt trennt. Es ist Samstag, der 16. November 2019, der | |
Vorabend der samtenen Revolution, die Schlag Mitternacht dreißig Jahre alt | |
werden wird. | |
Viele von denen, die an diesem späten Abend auf der Nationalstraße | |
unterwegs sind, waren damals noch nicht geboren. Dennoch legen auch die | |
Jüngeren an einem kleinen Laubengang Blumen an das Mahnmal mit den | |
flehenden Händen ab, das dort in die Wand eingelassen ist. Manche zünden | |
eine Kerze an. Sie stehen für die Opfer des Massakers, als das die | |
Tschechen den Auftakt ihrer Revolution bezeichnen. Diese begann mit dem | |
Einsatz von Schlagstöcken durch die Bereitschaftspolizei des | |
kommunistischen Regimes. | |
Das lag an jenem 17. November 1989 schon weitgehend in Trümmern, ohne dass | |
dies den Machthabern wirklich bewusst war. Die Sowjetunion hatte sich unter | |
dem Reformer Michael Gorbatschow von der Doktrin Leonid Breschnews | |
verabschiedet, nach der die Staaten des Ostblocks nur über eine | |
eingeschränkte Souveränität verfügten und die UdSSR selbst das Recht habe, | |
dort gegen oppositionelle Bestrebungen einzugreifen. In Polen stand seit | |
August 1989 der Bürgerrechtler Tadeusz Mazowiecki an der Spitze der | |
Regierung, Ungarn hatte sich im Oktober zu einer freien und demokratischen | |
Republik erklärt. Die Berliner Mauer war seit acht Tagen gefallen. | |
Nur in der Tschechoslowakei herrschte noch immer relative Ruhe. Der | |
politische Untergrund beschränkte sich auf die relative kleine Zahl von | |
etwa 1.200 Personen in den großen Städten wie Prag und Brünn. Reformen von | |
oben, so wie in Ungarn, schienen ausgeschlossen. In der | |
tschechoslowakischen Hauptstadt herrschten noch immer dieselben grauen | |
Männer, die zwanzig Jahre zuvor nach der Niederschlagung des Prager | |
Frühlings von Moskau aus eingesetzt worden waren. | |
## Im Untergrund: Sascha Vondra, der Dissident | |
„Die waren natürlich nicht an Reformen interessiert, aber überzeugt, beim | |
anstehenden Parteitag im Jahr kritiklos wie immer bestätigt zu werden und | |
so auf ewig weiterzumachen“, schmunzelt Sascha Vondra dreißig Jahre später. | |
Damals war Vondra gerade einmal 28 Jahre alt und eines der prominenten | |
Gesichter der jungen Generation von Dissidenten. „Ich verstand mich damals | |
als professioneller Herausgeber von Untergrund-Zeitschriften, sogenannten | |
Samizdats“, erzählt Vondra. | |
Nachdem er sein Geologiestudium Mitte der 1980er mit Promotion beendet | |
hatte, schlug Vondra eine damals typische Dissidentenkarriere ein: der | |
Schein fürs Regime in Form einer offiziellen, anspruchslosen Arbeit. Und | |
das Sein hinter verschlossenen Türen. „Ich arbeitete zum Beispiel als | |
Heizer. Aber in Wirklichkeit machten wir unsere Samizdats, hörten Radio | |
Freies Europa und lebten in einer Art Parallelgesellschaft“, sagt Vondra. | |
Hätte Sascha Vondra am Abend des 16. November 1989 ein weitsichtiger | |
Zeitgenosse prophezeit, dass das Regime de facto nur noch einen Tag | |
bestehen würde, hätte er diesen wohl ausgelacht. Niemand konnte zu diesem | |
Zeitpunkt ernsthaft damit rechnen, dass noch vor Jahresfrist der Dichter | |
und Dissident Václav Havel als Staatspräsident auf der Prager Burg | |
einziehen würde. | |
## Unter falschem Namen: Ludvík Zifčák, der Stasi-Mann | |
„Das haben wir jedenfalls nicht geplant“, brummt Ludvík Zifčák und | |
verschränkt die Arme trotzig vor seiner Brust. Glaubte Sascha Vondra am | |
Vorabend der Revolution noch an eine Karriere als Regimegegner und | |
klandestiner Herausgeber, so bereitete sich sein Altersgenosse Ludvík | |
Žifčák auf eine ganz andere Mission vor. Als überzeugter Kommunist war er | |
zuerst in die Partei und dann in die Armee eingetreten. Nach einem kurzen | |
Aufenthalt in Afghanistan – „logistische Sachen“ – tritt er einer | |
Eliteeinheit der tschechoslowakischen Staatssicherheit, abgekürzt StB, bei. | |
Unter dem falschen Namen Milan Růžička, einem angeblichen Studenten aus der | |
Stadt Ostrava, infiltriert im Sommer 1989 die Dissidentenbewegung. „Wir | |
hatten da überall unsere Leute“, lacht Žifčák, und in seiner Stimme ist | |
auch heute noch eine gewisse Verachtung zu hören. „Diese paar Dissidenten? | |
Denen konnten wir doch nicht den Staat überlassen“, sagt er. „Da waren die | |
meisten Säufer oder irgendwelche merkwürdigen Gestalten“, schnaubt Žifčá… | |
„Dass das Regime sich ändern musste, das war uns schon im Sommer 1989 klar. | |
Viele Menschen waren mutiger geworden und begannen, mit uns Dissidenten zu | |
sympathisieren“, erinnert sich Sascha Vondra. Das Pflänzchen der Revolution | |
wuchs, doch niemand rechnete damit, dass es so abrupt aufblühen würde. „Ein | |
Wendepunkt war die Palach-Woche im Januar 1989“, glaubt Vondra. | |
## Prügel-Orgien der Polizei | |
Die Palach-Woche, das war eine Serie von Demonstrationen anlässlich des 20. | |
Todestags des Studenten Jan Palach, der sich 1969 auf dem Wenzelsplatz aus | |
Protest gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings selbst verbrannt | |
hatte. Die Polizei ging äußerst brutal gegen die Demonstranten von 1989 | |
vor. Diese Brutalität, mit der die Kommunisten auf die meist jungen | |
Demonstranten einprügeln ließ, entblößte das Regime vor dem Volk. „Da war… | |
es dann plötzlich keine weltfremden Dissidenten mehr, die mit Schlägen | |
auseinandergetrieben wurden, sondern Söhne und Töchter, Enkel und Nichten“, | |
meint Sascha Vondra im Rückblick. | |
Über den Sommer hinweg hatte das Regime seine Grenzen weiter ausgedehnt, | |
indem es versuchte, sämtliche Proteste mit Gewalt zu unterdrücken. Im | |
Frühherbst 1989 durften die Prager dann live den Exodus Tausender | |
DDR-Bürger mitverfolgen, die über die bundesdeutsche Botschaft auf der | |
Prager Kleinseite gen Westen flüchteten. „Viele waren den Sommer über | |
mutiger geworden und begannen mit uns Dissidenten zu sympathisieren“, | |
erinnert sich Vondra. | |
Am 17. November 1989, einem Freitag, macht sich Vondra zusammen mit seiner | |
Frau und einer Kollegin aus Polen zu einer weiteren Demonstration auf, | |
schon der dritten seit einem Monat. Im Studentenviertel Albertov südlich | |
des Stadtzentrums ist ein Gedenkakt zum 50. Jahrestag der Studentenproteste | |
gegen die Nazi-Besatzung und ihrer brutalen Niederschlagung im November | |
1939 anberaumt. In der ohnehin angespannten Atmosphäre, acht Tage nach Fall | |
der Berliner Mauer, schlägt die Pietät jedoch schnell in Protest um. Ein | |
Gruppe von Studenten will den Zug auf den Vyšehrad leiten, dem | |
sagenumwobenen Felsen hoch über der Moldau, wo die 900 Jahre alte | |
Peter-und-Paul-Basilika wie auch der Heldenfriedhof Slavín an die | |
Vergänglichkeit der Zeit mahnen. Doch eine zweite Gruppe, die den Protest | |
in die Stadt auf den Wenzelsplatz leiten will, setzt sich durch. | |
## Martin Šmíd, der angebliche Tote | |
Im Laubengang auf der Nationalstraße kommt der Zug zum Halten. Fest | |
geschlossene Reihen von Bereitschaftspolizisten, von den Demonstranten | |
Weißhelme genannt, warten schon auf die Studenten. Die Schlagstöcke fest im | |
Griff machen sie ein Weiterkommen unmöglich. Der Protest lässt nicht nach, | |
er wird laut. Die Staatsmacht schlägt zu mit derselben Brutalität, wie sie | |
schon in den Monaten und Wochen vorgegangen ist. | |
Doch dann hallt plötzlich eine Frauenstimme durch die Menge: „Sie haben ihn | |
umgebracht“. Tatsächlich: An der Spitze des Zuges ist trotz der frühen | |
Dunkelheit ein lebloser Körper zu erkennen, der inzwischen schon von ein | |
paar Polizisten umstellt wird. Plötzlich ist alles ganz anders. Trotz des | |
ausbrechenden Chaos wird der Tote schnell identifiziert: Martin Šmíd, | |
Student an der Mathematisch-Physikalischen Fakultät der Prager | |
Karls-Universität. Wie ein Lauffeuer verbreitet sich die Nachricht vom | |
toten Studenten, nicht nur in Prag. Auch die bundesdeutsche „Tagesschau“ | |
berichtet ein paar Stunden später davon, dass die Proteste ein Todesopfer | |
gefordert haben. | |
„Auf einmal änderte sich die Atmosphäre“, erinnert sich Sascha Vondra, der | |
damals mit in der Menge steckt. „Es war, als ob die ganze Angst von uns | |
allen abgefallen wäre. Wir fürchteten uns nicht mehr. Nicht vor ihren | |
Schlägen und auch nicht vor dem, was danach kommen könnte.“ Nein, sie | |
hatten nicht damit gerechnet, dass es so schnell gehen würde. „Plötzlich | |
wussten wir einfach, das war es jetzt.“ Nach über vierzig Jahren hatte das | |
kommunistische Regime die Kontrolle über die Straße verloren. | |
Während die Bereitschaftspolizisten weiter im Laubengang auf die | |
Protestierenden einprügeln, wird der leblose Körper des Martin Šmíd rasch | |
in einen Krankenwagen verfrachtet und weggebracht. Kaum jemandem fällt auf, | |
dass es ein Fahrzeug der Armee ist, der den Studenten abtransportiert. | |
Niemand bemerkt, dass die Ambulanz nicht ins nahe gelegene Krankenhaus am | |
Karlsplatz fährt, sondern die Prager Altstadt umfährt, bis sie das | |
Krankenhaus Na Františku ein paar Kilometer die Moldau aufwärts erreicht. | |
Kaum ist der Krankenwagen im Innenhof des ehemaligen Franziskanerklosters | |
zum Halten gekommen, springt der angeblich verstorbene Martin Šmíd von | |
seiner Bahre und wird wieder zum lebendigen Ludvík Zifčák, dem 29-jährigen | |
Berufssoldaten und Leutnant einer Eliteeinheit der tschechoslowakischen | |
Staatssicherheit. Er hat seine Mission erfüllt. | |
„Es war eigentlich recht einfach, immerhin waren die Proteste ja von uns | |
organisiert und gelenkt“, erzählt Zifčák dreißig Jahre später Am 17. | |
November sei er ganz vorn im Protestzug mit dabei gewesen. „Unser Befehl | |
war, niemanden auf den Wenzelsplatz zu lassen“, sagt Žifčák. Im Laubengang | |
auf der Nationalstraße war Schluss. Hier warteten die Polizisten mit ihren | |
Knüppeln. Hier befand sich die Front, an der Ludvík Žifčák alias Milan | |
Růžička alias Martin Šmíd fallen sollte. „Auf Martin Šmíd kamen wir, w… | |
Milan Růžička nicht sterben durfte. Der sollte ja weitermachen, wir ahnten | |
ja nicht, dass alles so aus dem Ruder laufen würde“, ärgert sich Zifčák. | |
## Ein Schuss, der nach hinten losging | |
Der eigentliche Plan der Staatssicherheit sah vor, die seit zwanzig Jahren | |
an der Macht klebenden Betonkommunisten durch Reformer zu ersetzen. Doch | |
der Schuss ging nach hinten los. Die tschechoslowakische Staatssicherheit | |
hatte mit dem angeblichen Tod von Martin Šmíd den Geist der Freiheit | |
entfacht, und den konnte sie nicht mehr kontrollieren. Als nur zwei Tage | |
später bekannt wurde, dass der tote Student eine Erfindung der | |
Staatssicherheit gewesen war, demonstrierten schon längst die Arbeiter der | |
Prager Eisenbahnwerke an der Seite der Dissidenten und Studenten. Die | |
samtene Revolution war nicht mehr aufzuhalten. | |
Nach dem Rücktritt der alten Führungsriege begann der neue kommunistische | |
Regierungschef Marián Čalfa, mit Dissidenten wie Václav Havel und Sascha | |
Vondra zu verhandeln. „Die Reformkommunisten von 1968 um Alexandr Dubček | |
waren für den eine größere Gefahr als wir“, sagt Vondra heute. Für den | |
Dissidenten am Rande der Gesellschaft führte die samtene Revolution zu | |
einem bis dahin ungeahnten Lebensweg: Botschafter in der US-Hauptstadt | |
Washington, Senator, Außenminister und Verteidigungsminister. Heute sitzt | |
Sascha Vondra für die konservative ODS im Europäischen Parlament. | |
Für seine Rolle als Zündfunke der samtenen Revolution wurde Ludvík Zifčák | |
zu 18 Monaten Haft verurteilt. „Man hat mir ja ein ganz anderes Urteil | |
angeboten, wenn ich schweigen würde. Aber das fällt mir nicht ein“, | |
behauptet er. In eine gewisse Erklärungsnot gerät Zifčák, wenn er über sein | |
neues Leben in den Bergen spricht. Im Altvatergebirge, fernab von Prag, | |
führt er heute ein kleines Hotel im schmucken Kurort Karlova Studánka. | |
„Dass ich als Kommunist mal als Kapitalist arbeiten muss“, schimpft er. | |
Aber in seiner Stimme schwingt ein Lachen mit. „Dass wir heute mehr | |
Meinungsfreiheit haben, finde ich ja gut.“, sagt der einstige Stasi-Mann. | |
Auf die Prager Nationalstraße zum Gedenken am die Revolution vor dreißig | |
Jahren zieht es Ludvík Zifčák deshalb aber nicht. Auch mag er nicht darüber | |
nachdenken, dass seine Mission als toter Student Martin Šmíd nicht nur sein | |
Leben geändert hat, sondern auch das von 15 Millionen Tschechoslowaken. In | |
den Nachrichtensendungen des Fernsehens kann Ludvík Zifčák sehen, wie am | |
Vorabend des 17. November wildfremde Menschen Blumen und Kerzen in den | |
Laubengang bringen, in dem seine letzte Mission dem Regime die Kontrolle | |
gekostet hat. | |
17 Nov 2019 | |
## AUTOREN | |
Alexandra Mostyn | |
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