# taz.de -- Sammelband: Vermächtnis der Frauenbewegung | |
> Von Tomatenwurf bis Dekonstruktion: Ilse Lenz gibt einen voluminösen Band | |
> zur neuen Frauenbewegung heraus. Angesichts der gängigen Zerrbilder ist | |
> das reinste Aufklärung. | |
Bild: Angehörige des "Aktionsrates zur Emanzipation der Frau" 1968. | |
Die Nachdenklicheren unter den sogenannten neuen Feministinnen haben dem | |
Spiel "Wie unsexy und männerfeindlich ist die alte 70er-Jahre Emanze?" | |
mittlerweile Adieu gesagt. Denn nicht nur die Genderforschung, sondern auch | |
die heutige Geschlechterpolitik - beides wird großenteils von genau diesen | |
70er-Jahre-Emanzen betrieben - sind Lichtjahre entfernt von den | |
Frontstellungen, die in den Medien immer wieder mit großer Lust inszeniert | |
wurden und werden. Dagegen entdeckt der Alphamädchen-Nachwuchs gerade die | |
Geschichte der Müttergeneration neu. Vielleicht braucht man den Feminismus | |
gar nicht gänzlich neu erfinden? | |
Diese Frage war bisher nicht leicht zu beantworten. Es gibt einige eher | |
trockene Sammlungen historischer Abläufe, von Abtreibung bis Quote. Und es | |
gibt die Version von Alice Schwarzer, in der das historische Subjekt Frau | |
in seltsamer Einmütigkeit voranschreitet. Die wird von verschiedenen | |
Zeitzeuginnen bestritten. Ilse Lenz, Professorin für Geschlechter- und | |
Sozialstrukturforschung der Ruhr-Universität Bochum, ist diesem Unbehagen | |
nun mit einem Projekt historischen Ausmaßes begegnet: 1.195 Seiten dick ist | |
die Sammlung "Die neue Frauenbewegung in Deutschland". Das Einmalige: Es | |
sind Originalquellen, 262 an der Zahl, die von Lenz und ihrem Team | |
gesichtet, nach vier historischen Phasen von 1968 bis heute geordnet und | |
kritisch kommentiert werden. Die 61-jährige Wissenschaftlerin übergibt | |
damit quasi das Erbe der Frauenbewegung an die Nachwelt. | |
Dem "in den 1970er-Jahren festgefrorenen" Bild der Frauenbewegung setzt sie | |
deren Dynamik entgegen, deren volle Wucht sich in den Texten abzeichnet: | |
"kotzen wirs aus: wir sind penisneidisch, frustriert, hysterisch, | |
verklemmt, asexuell, lesbisch, frigid, zukurzgekommen …", so ironisiert | |
schon 1968 das hochumstrittene Flugblatt des Frankfurter Weiberrats die | |
Reflexe der "sozialistischen Eminenzen" gegen die unbequemen Frauen, die | |
die Reproduktionsverhältnisse ebenso wichtig zu nehmen wagten wie die | |
Produktionsverhältnisse. Es ist selbstverständlich im Faksimile (mit | |
Schwanztrophäen) abgedruckt. | |
Gerade dieses Flugblatt taugt als Ikone eines historischen | |
Aneinandervorbeiredens: Es ging der Gruppe auch um die ständige Abwertung | |
ihrer Anliegen, unter anderem die ungleiche Aufteilung von Aktivismus und | |
Hausarbeit in ihren Beziehungen. Das Anliegen wurde ignoriert, stattdessen | |
hält die Frau mit der Doppelaxt, ursprünglich ironisch gemeint, seitdem her | |
als Sinnbild der männerhassenden Emanze. Eine Reaktion der Frauen auf diese | |
Mischung aus Ignoranz und Diffamierung war der Rückzug in "Frauenräume" - | |
was ihnen selbstverständlich ebenfalls bis heute vorgeworfen wird. | |
Weitgehend verniedlicht wird heute, was die Frauenbewegung seit 68 | |
permanent umgetrieben hat: Wie kann die von der bürgerlichen Gesellschaft | |
ins Haus verbannte Frau, die Spezialistin fürs Privatleben, wieder Sitz und | |
Stimme in der Öffentlichkeit erlangen? | |
Zur Erinnerung: Als Willy Brandt 1972 antrat, saßen genau 30 Frauen im | |
deutschen Bundestag: 5,8 Prozent. Erst mit den vielgescholtenen | |
Quotenregelungen erhöhte sich der Anteil. Völlig verdrängt erscheint heute | |
die Erweiterung dieser "bürgerlichen" Sichtweise durch die Forscherinnen um | |
Regina Becker-Schmidt, die als Erste die "doppelte Vergesellschaftung" | |
berufstätiger Frauen beschrieben hatte. Sie sind gleichermaßen für das | |
Einkommen und die Hausarbeit zuständig. Die Hausarbeit verhindert aber, | |
dass sie gleiche Chancen im beruflichen Konkurrenzkampf mit Männern haben. | |
Weil sie wissen, dass ihre beruflichen Chancen schlechter sind, halten sie | |
an der Ehe als Versorgungsinstitution fest. | |
Eine der lautesten Klagen über die 70er-Jahre-Emanzen betrifft heute, dass | |
sie "unsere" Probleme der Vereinbarkeit von Familie und Beruf nicht gelöst | |
hätten. Wer bei Lenz nachliest, lernt: Kaum ein Thema ist so breit und | |
differenziert diskutiert worden. Aber kaum ein Thema hat sich in der | |
offiziellen Politik seitdem so wenig niedergeschlagen: die Regierungen Kohl | |
und Schröder lassen grüßen. | |
Déjà-vu-Erlebnisse wird auch haben, wer die Forderungen des Berliner | |
Kindergärtnerinnenstreiks von 1969 nachliest und mit den aktuellen | |
Kitastreiks vergleicht. Viele dieser vergessenen Aktionen jenseits von | |
Paragraf 218 und Antigewaltforderungen hebt die Sammlung wieder ans Licht: | |
Streiks der Frauen gegen "Leichtlohngruppen", ein Vorläufer der heutigen | |
Forderungen nach Lohngleichheit. Den Versuch, Frauenpolitik in die | |
Gewerkschaften, das "Arbeitnehmerpatriarchat" (Ingrid Kurz-Scherf) zu | |
tragen, bis heute ein heikles Unterfangen. Der Aufbruch der Lesben und der | |
Migrantinnen, der immer mit einer scharfen Polemik gegen die (weiße, | |
heterosexuelle) Frauenbewegung einherging. Milde beschreibt Lenz die Kämpfe | |
und Krisen als "konfliktuelle Differenzierung", die eine "Totalisierung von | |
Konflikten begünstigte". | |
Insgesamt entsteht der Eindruck, dass die Frauenbewegung entgegen der | |
öffentlichen Wahrnehmung nicht sanft entschlafen ist, sondern sich im | |
Gegenteil seit den 90er-Jahren professionalisiert, institutionalisiert und | |
internationalisiert hat. | |
Zwei Phänomene unterscheidet sie jedoch von den anderen sozialen Bewegungen | |
wie den Ökos, die heute einen Relaunch als Lohas erleben: Ihre Neuerfindung | |
als Alphagirls wird als Bruch inszeniert, was den Alphamädchen einiges an | |
historischen und institutionellen Ressourcen raubt. Und sie wird nach wie | |
vor diffamiert: Die lesbischen, hysterischen Emanzen von 1968 geistern | |
heute noch durch Texte von FAZ bis Spiegel, in denen Genderthemen versenkt | |
werden. | |
Entstanden ist ein Nachschlagewerk, in dem man Originalquellen zu allen | |
relevanten Themen der Frauenbewegung nachlesen kann - allerdings mit | |
einigem Blättern, es fehlt ein Namensregister. Unterbelichtet bleibt der | |
Osten. Auch sozialistische Feministinnen haben sich bereits über | |
Unterrepräsentanz beklagt, obwohl Maria Mies oder Frigga Haug durchaus | |
vorkommen. | |
Wer genug Neugier auf die hysterischen Emanzen mitbringt und keine Scheu | |
vor einem eng bedruckten, nicht sehr übersichtlichen Backstein hat, ist | |
hervorragend bedient. Alle anderen können sich eine in diesem Sommer | |
erschienene Kurzfassung bestellen. | |
Kurzfassung: Ilse Lenz (Hrsg.) Die neue Frauenbewegung in Deutschland. | |
Ausgewählte Quellen, VS-Verlag, 347 Seiten, 24,90 Euro | |
21 Aug 2009 | |
## AUTOREN | |
Heide Oestreich | |
Heide Oestreich | |
## TAGS | |
Frauen | |
Podcast „Passierte Tomaten“ | |
Frauenrechte | |
Schwerpunkt Gender und Sexualitäten | |
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