# taz.de -- Russisch besetzte Gebiete der Ukraine: Folter mit Stromstößen | |
> In Charkiw haben russische Besatzer inoffizielle Gefängnisse eingerichtet | |
> – und dort gezielt ehemalige ukrainische Soldaten gefoltert. Opfer | |
> berichten. | |
Bild: Ein ehemaliger ATO-Kämpfer wird im April 2022 in Charkiw gefangen genomm… | |
SCHEWTSCHENKOWE taz | „Als Erstes haben sie mir zwei Rippen gebrochen und | |
mir mit einer Eisenstange die Hände zertrümmert“, erinnert sich der | |
33-jährige Sergei, ein ehemaliger ATO-Kämpfer aus der Kleinstadt | |
Schewtschenkowe im ostukrainischen Gebiet Charkiw. | |
Im September 2022 war es der ukrainischen Armee gelungen, innerhalb weniger | |
Wochen einen großen Teil des Gebietes Charkiw von der russischen Besatzung | |
zurück zu erobern. Im Anschluss wurden in fast allen befreiten Städten und | |
Dörfern [1][Foltereinrichtungen und inoffizielle Haftanstalten] für | |
ukrainische Staatsbürger gefunden, so auch in der Kleinstadt | |
Schewtschenkowe bei Kupjansk. | |
An zwei Orten hielten die russischen Besatzer hier Menschen gefangen: im | |
örtlichen Polizeirevier und im Keller des Wehramtes. Meistens waren es | |
einheimische Kollaborateure, die Menschen festnahmen, schlugen und sich | |
über sie lustig machten. Angeleitet dazu wurden sie jedoch von den | |
russischen Besatzern, die sich dabei auch besonders grausam verhielten. | |
## Russische Besatzer, ukrainische Kollaborateure | |
[2][Als Kollaborateure gelten im Krieg in der Ukraine heute diejenigen | |
ukrainischen Staatsangehörigen], die die russische Besatzungsmacht aktiv | |
unterstützen, mit ihnen kommunizieren und ihnen bei der Umsetzung ihrer | |
Pläne helfen. | |
Besonders im Visier stehen bei ihnen jetzt ehemalige ukrainische Soldaten, | |
die an den Einsätzen der ukrainischen Streitkräfte gegen die von Russland | |
unterstützten Donezk- und Luhansk-Separatisten ab 2014 beteiligt waren – | |
die „Anti-Terror-Operation“ (ATO) beziehungsweise ab 2018 die „Operation | |
der Vereinten Kräfte“ (OOS). Sergei war während seiner Dienstzeit bei der | |
ATO Flugabwehrschütze und Artillerieaufklärer gewesen. | |
Schewtschenkowe, ein Ort mit 7.000 Einwohnern, war nur einer von vielen | |
Orten im Gebiet Charkiw, die zu Beginn des russischen Einmarsches in der | |
Ukraine ab 24. Februar 2022 an die russischen Besatzer fielen. Am 27. Juli | |
2022 wurde Sergei bei einem Spaziergang mit seinem Hund im Kulturpark von | |
Schewtschenkowe festgenommen. | |
Es waren, so sagt er, ukrainische Kollaborateure, die ihn festnahmen: der | |
Leiter des provisorischen Gefängnisses namens Jusifow, der Leiter der | |
Bezirkspolizei, Michalew, sowie ein Mann namens Artjom Lesowoj. Eine | |
rechtliche Grundlage für Sergeis Festnahme gab es nicht. Die Männer hatten | |
Listen aller ehemaligen ATO-Angehörigen, deshalb hatten sie auch nach | |
Sergei gesucht. | |
## Sie folterten, um an Informationen zu kommen | |
„In meine Zelle kam dann ‚Virage‘, ein Russe, der der Kommandeur der | |
Besatzungstruppen in Schewtschenkowe war, sowie ein Russe namens ‚Mjasnik‘ | |
(Metzger), dem wir den Spitznamen ‚Habib‘ gegeben hatten, weil er wie ein | |
Tschetschene aussah. ‚Virage‘ fragte mich, was ich bei der ATO gemacht | |
habe. Ich antwortete, dass ich an Checkpoints gestanden hätte. | |
Er glaubte mir aber nicht, zog eine Pistole, nahm das Magazin heraus, ließ | |
eine Kugel darin und sagte: ‚Da, schieß!‘ Und ich so: ‚Du willst das doc… | |
also schieß selber. Ich habe keine Suizidabsichten.‘ Dann rief er nach dem | |
‚Metzger‘. | |
Der kam herein und befahl mir, die Hände auf den Tisch zu legen. Das tat | |
ich, und er begann, mit einer Eisenstange so stark darauf einzuschlagen, | |
dass Stücke meiner Finger abflogen. Meine Hände waren geschwollen, zwei | |
meiner Rippen waren gebrochen. Blutüberströmt warfen sie mich in die Zelle | |
zurück“, erinnert sich Sergei. Während er erzählt, werden seine Augen | |
feucht, er beginnt zu zittern. | |
Am folgenden Tag, dem 28. Juli, ging die Gewalt gegen den ehemaligen | |
ATO-Kämpfer weiter. Die Kollaborateure folterten ihn, versuchten, | |
Informationen über eine Brigade zu bekommen, mit der Sergei aber gar nichts | |
zu tun gehabt hatte. | |
## Folter mit Kühlmittel und Strom | |
„Sie folterten mich mit Stromstößen. Hier sieht man die Verbrennungen, und | |
hier sind Narben zurückgeblieben.“ Sergei zeigt auf einige runde vernarbte | |
Stellen am Unterarm, an der Schulter und am Oberkörper. „Sie haben mich mit | |
dem Kühlmittel Freon übergossen, die Blasen davon sind anschließend | |
aufgeplatzt. Das war Artjom Lesowoj, der mochte mich aus irgendeinem Grund | |
überhaupt nicht. Er ist von hier, ein Mann aus Schewtschenkowe. Auch einer, | |
der Mamon hieß, hat mich geschlagen.“ | |
Sergei erinnert sich noch, dass in der Zelle mit Platz für vier Personen im | |
Keller des Wehramtes 32 Menschen gefangen gehalten wurden, darunter auch | |
einige ehemalige ATO-Kämpfer. „Sie wurden auch mit Strom gefoltert und dazu | |
befragt, wo sich die ukrainischen Soldaten befinden. „‚Du musst wissen, wo | |
Soldaten sind, wo sich Armeeeinheiten befinden, wo du selber ausgebildet | |
wurdest‘ und so weiter. Sie drohten mit Erschießung. Sagten, sie würden | |
mich unter einen Panzer stoßen. Aber ich wusste wirklich nichts. Sie | |
schlossen auch meinen Penis an ein Stromkabel an“, berichtet Sergei. | |
Nach einigen Tagen der Folter schickten sie Sergei zu einem sogenannten | |
Arbeitseinsatz in die nahegelegene, damals ebenfalls russisch besetzte | |
Stadt Kupjansk. Er blieb dort 45 Tage. Im August 2022 traf eine ukrainische | |
Rakete das Zollgebäude in Kupjansk, wo russische FSB-Einheiten stationiert | |
waren. Dort, so erzählt Sergei, starben rund 170 russische Soldaten. Er | |
erinnert sich, dass die russischen Besatzer eine Liste mit allen Toten | |
erstellten und auf dieser etwa 170 Namen aufgeführt waren. | |
Sergei hat selber einige ehemalige ATO-Kämpfer gesehen, die die Besatzer | |
und ihre Kollaborateure mit Stromstößen gefoltert und mit Wasser übergossen | |
hatten. Sie ließen die Gefangenen weder essen, trinken noch schlafen. | |
## Leere Versprechungen für Verrat | |
Der Brutalste von allen, so Sergei, sei der „Metzger“ gewesen. „Sie | |
wollten, dass wir die Seiten wechseln. Sie fragten, wer in der Armee | |
gedient habe, wer in der ATO gewesen sei. ‚Kommt auf unsere Seite, dann | |
wird es euch gutgehen.‘ Nur einer hat sich darauf eingelassen. Sie boten | |
uns festes Gehalt, ein Haus, ein Auto. Sie boten mir an, Zugführer zu | |
werden, Kompanieführer. Ich bin nicht übergelaufen. Ich habe gemerkt, dass | |
es eine Täuschung war“, sagt er. | |
In Kupjansk konnte Sergei schließlich fliehen, als ein Aufseher gerade mit | |
seiner Ehefrau telefonierte. „Sie sind Unwesen. Jedes Tier ist besser als | |
sie“, beendet Sergei seine Erzählung. | |
[3][Schewtschenkowe wurde schließlich am 8. September 2022 durch | |
ukrainische Truppen befreit]. Dort gelang es jetzt der taz, einige der von | |
den Russen gefolterten und illegal Inhaftierten zu befragen. Sergeis Worte | |
über die besondere Grausamkeit von Russen und ihren Kollaborateuren | |
gegenüber ehemaligen ATO- und OOS-Angehörigen werden von Artur, einem | |
39-jährigen Elektriker, und Ilja, einem 45-jährigen | |
Wirtschaftswissenschaftler, bestätigt. Beide wurden ebenfalls unter | |
Vorspiegelung falscher Tatsachen festgenommen, im Gefängnis festgehalten | |
und dann zum öffentlichen „Arbeiten“ in Schewtschenkowe zu gezwungen. | |
## Bis zu 13 Gefangene in einer Zweier-Zelle | |
Artur war vier Tage in einer Zelle eingesperrt. „Ich wurde von Jusifow, | |
Mamon und Larionow geschlagen. Sie schlugen einfach zu. Ich habe da noch | |
gar nicht begriffen, was sie von mir wollten“, erzählt er. „Ich habe mit | |
sechs anderen von uns draußen in einem Käfig geschlafen. Manchmal kam Mamon | |
nachts mit seinem Maschinengewehr vorbei und zielte mal auf den Boden, mal | |
in die Luft.“ | |
Artur erzählt, dass in einer Zelle für zwei Personen, die im örtlichen | |
Polizeirevier eingerichtet worden war, 9 bis 13 Gefangene untergebracht | |
waren. Er erinnert sich, dass der Kollaborateur Jusifow sich über sie | |
lustig machte und die Gefangenen mit einem Eisenrohr schlug. | |
Der Kollaborateur Mamon holte die Leute nachts aus der Zelle, feuerte mit | |
einer Schusswaffe herum, um den Häftlingen Angst zu machen. Außer von | |
ukrainischen Kollaborateuren wurden sie auch von dem Russen „Habib“ | |
gefoltert, der immer eine Sturmhaube trug. | |
## Juristische Verfolgung ukrainischer Kollaborateure | |
Nach der Befreiung wurden in der gesamten Region Charkiw Kollaborateure | |
entdeckt. Nach Angaben des Leiters der Strafverfolgungsbehörde GBR in | |
Poltawa, Denys Mankowsky, wurden in Schewtschenkowe neun Strafverfahren | |
gegen ehemalige ukrainische Ordnungskräfte eröffnet, die zum Feind | |
übergelaufen waren. Er sagt, dass die ukrainischen Ermittler nicht nur | |
örtliche Kollaborateure, sondern auch russische Soldaten ausfindig machen, | |
die ebenfalls Kriegsverbrechen in sämtlichen Orten der Region Charkiw | |
begangen haben. | |
Gegen ehemalige ATO- und OOS-Kämpfer seien diese besonders grausam | |
vorgegangen – „weil es ihre Feinde sind“, so Mankowsky. „Wir sehen alle | |
sehr gut, dass die Russen sich eine Art dämonisches Bild von ukrainischen | |
Nationalisten gemacht haben, was ihrer Überzeugung nach wirklich existiert. | |
Aber wir verstehen auch, dass dieses Bild ein Mythos ist. Und dass sie zu | |
diesen Nationalisten auch die früheren ATO-Kämpfer zählen. Deshalb haben | |
sie so gründlich nach ihnen gesucht. | |
Sie haben verstanden, dass es diese Leute sind, die Sabotageakte gegen | |
Soldaten der Russischen Föderation und gegen Objekte der russischen | |
Streitkräfte begehen können. Ehemalige Kämpfer von ATO und OOS könnten | |
andere Protestformen organisieren, weil sie schon an direkten Kampf- und | |
Kriegshandlungen teilgenommen haben und über bestimmte Fähigkeiten | |
verfügen, sodass sie, sagen wir mal, in aller Ruhe für das Wohl der Ukraine | |
arbeiten konnten. Darum ist es nur logisch, dass sie diese Menschen | |
ausfindig gemacht haben und sofort illegale Methoden der Inhaftierung, | |
Folter und sogar Hinrichtung gegen sie eingesetzt haben“, erklärt | |
GBR-Leiter Denys Mankowsky. | |
Bis zum 1. September 2023 wurden acht Strafverfahren gegen | |
Polizeikollaborateure in Schewtschenkowe an die Gerichte weitergeleitet. | |
Von den Angeklagten befindet sich ein Kollaborateur derzeit in Haft, die | |
anderen werden wohl in Abwesenheit verurteilt. Nach allen wird gefahndet, | |
ein besonderes Ermittlungsverfahren wurde eingeleitet. Alle werden in | |
Abwesenheit verdächtigt, alle werden gesucht, da sie sich auf russischem | |
Staatsgebiet verstecken. | |
Aus dem Russischen [4][Gaby Coldewey] | |
21 Sep 2023 | |
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Juri Larin | |
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