# taz.de -- Ronald M. Schernikau wiederentdeckt: Optimistisch, trotz alledem | |
> Autor Ronald M. Schernikau dachte schwule Identitätspolitik, Pop und | |
> Klassenfragen zusammen. Jetzt wird er wieder gelesen. | |
Bild: Auch am Deutschen Theater Berlin wurde Schernikau wiederentdeckt | |
Schwul und Kommunist. Zwei Bezeichnungen, die zumindest in meiner Schulzeit | |
in Bayern als Beschimpfungen fungierten. Ich befürchte, hierbei hat sich in | |
weiten Teilen Deutschlands wenig geändert. Gewendet wird dies bei einem, | |
der sich beides – Schwulsein und Kommunist-Sein – auf die Fahne geschrieben | |
hat. [1][Ronald M. Schernikau]. | |
„Als kommunistischer Schriftsteller und als selbstbewusster Schwuler | |
verfolgte Schernikau stets eine Ästhetik der Affirmation, also | |
Welt-Zugewandtheit: er sah stets und vor allem, dass etwas möglich ist – | |
und was möglich zu sein hat und möglich sein muss“, so fasst Lucas Mielke, | |
Mitherausgeber der im Herbst erscheinenden Werkausgabe Schernikaus dessen | |
Leitmotiv zusammen. | |
Die Werkausgabe ist ambitioniert. In der westdeutschen Provinz | |
aufgewachsen, schreibt Schernikau bereits mit 14 Leserbriefe an die linke | |
Monatszeitung Konkret und mit 18, noch vor seinem Abitur, das Buch, das ihn | |
auf einen Schlag zum Star machen solle: die „kleinstadtnovelle“. | |
Dort schildert er mehr als die Enge für einen jungen Homosexuellen in der | |
Provinz, er benennt haargenau die Aggressionen und Vorbehalte der | |
Gesellschaft gegen alles, was von der Norm abweicht, insbesondere | |
Homosexualität. Das Buch erschien 1980 im Rotbuch Verlag und erregte | |
einiges Aufsehen. | |
## Schreiben als Revolte | |
Schernikaus Revolte gegen die Starrheit der gesellschaftlichen und | |
sexuellen Konventionen wurde das Schreiben. Als Kommunist war dies für ihn | |
aber kein Selbstzweck, sondern auch immer Schreiben in | |
gesellschaftsverändernder Absicht – ohne die Literatur jedoch als bloßes | |
Mittel der Politik zu begreifen. | |
Der Flucht in das Schreiben folgte die Flucht nach Westberlin. Dort und in | |
der Sozialistischen Einheitspartei Westberlin angekommen, arbeitete er für | |
die Parteizeitung UZ, die Siegessäule, und das Feuilleton der Konkret. Viel | |
belächelt wurde später die Episode, dass er als erster BRD-Bürger die | |
Genehmigung erhielt, am Leipziger Institut für Literatur „Johannes R. | |
Becher“ zu studieren – kurz vor der Wende. Just zur Zeit des Mauerfalls | |
übersiedelte er nach Ostberlin und wurde als letzter Wessi Bürger der | |
bereits dem Untergang geweihten DDR. | |
Als Kommunist war sie für ihn der „saure Apfel“ im Gegensatz zum „faulen | |
Apfel“ der BRD, wie es sein Freund und Mentor Peter Hacks bezeichnet hat. | |
Mit der konkreten DDR hatte Schernikau gleichwohl wenig zu tun. Sie war für | |
ihn mehr imaginierter Sehnsuchtsort als konkreter Staat oder Heimat. Er | |
überlebte sie nicht lange. 1991 starb Schernikau. | |
Sehnsucht – das ist tatsächlich ein wichtiger Begriff, um Schernikau zu | |
verstehen. Sie spricht auch aus seinem letzten großen Werk „legende“. Die | |
Wiederveröffentlichung dieses Romans, in dem sich eine seltsame | |
Vertrautheit und Aktualität politischer Fragen entdecken lässt, wird den | |
ersten Band der Werkausgabe bilden. | |
## Eine sekuläre Bibel | |
„legende“ war mit über 800 Seiten das Opus magnum von Schernikau und | |
erschien erst postum im Jahr 1999, was prominenten Fürsprecher_innen wie | |
Elfriede Jelinek, Peter Hacks und H. L. Gremliza zu verdanken war. Es ist | |
ein Buch aus mehreren Büchern, collagenhaft arrangiert, und es hat nicht | |
weniger als die Bibel zum Vorbild; inhaltlich changiert es zwischen | |
Albernheiten, der Schönheit zwischenmenschlicher Begegnungen und scharfer | |
Gesellschaftsanalyse. | |
Tatsächlich hat Schernikau im vollen Bewusstsein der Hybris so etwas wie | |
eine säkulare Bibel geschrieben. „,legende' ist einerseits eine | |
Zusammenfassung seines Wissens über die Welt und gleichzeitig eine | |
Anleitung zum Umgang damit, ein Appell: Macht etwas! Und macht es | |
zusammen“, schreibt der Germanist Mielke. | |
Eine Handlung in vertrautem Sinn gibt es nicht. Dafür viele kurze | |
Abschnitte, zweispaltig gedruckt. Der Nachlass, der im Archiv der Berliner | |
Akademie der Künste aufbewahrt wird, birgt auch ein umfangreiches Konvolut | |
von Textbausteinen, die den langwierigen Entstehungsprozess des | |
Montageromans nachvollziehbar machen. | |
Vom Ausschnitt aus Boulevardblättern über Zitate der Gegenwartsliteratur | |
bis hin zu Referenzen auf die Klassiker der Sozialwissenschaften findet | |
sich hier scheinbar Disparates, das – im Ton zwischen heiterer Ironie und | |
tiefem Ernst wechselnd – zum ästhetisch-politischen Vermächtnis Schernikaus | |
verflochten wurde. | |
## Optimismus im ganzen Buch | |
Im Roman versammeln sich die skurrilsten Gestalten: von abgehalfterten | |
Kommunisten über geldgierige Kapitalisten bis hin zu Göttern, die den | |
Menschen das Glück bringen wollen. Diese betreten die Insel, als Symbol | |
Westberlins, und verwickeln sich in den Alltag des sie umgebenden Landes: | |
der DDR. Optimismus und das Bekenntnis zum sozialistischen Staat, der | |
während des Erscheinens des Buches tatsächlich bereits Geschichte war, | |
zieht sich durch das Buch. | |
Schernikau stellte den Roman wenige Wochen vor seinem Tod fertig. Auch wenn | |
er aufgrund seiner Aids-Erkrankung ahnte, dass er die Veröffentlichung | |
nicht mehr erleben würde, strotzt das Buch vor Hoffnung und dem Glauben an | |
eine bessere, kommunistische Zukunft. | |
Und dies trotz gleichzeitiger heftiger Kritik an den SED-Parteikommunisten: | |
„Die Dummheit der Kommunisten halte ich für kein Argument gegen den | |
Kommunismus“, schreibt Schernikau. Er sah das Elend der Welt, ohne jedoch | |
daran zu verzweifeln – und schuf sich über einen Zeitraum von acht Jahren | |
in „legende“ seine eigene. | |
Das Szenario, in dem es Götter braucht, um die Verhältnisse zum Tanzen zu | |
bringen, ist ein Anlass, sich auf einer konkreteren Ebene Gedanken darüber | |
zu machen, wie der Weg in eine Gesellschaft aussehen könnte, in der | |
Menschlichkeit, Solidarität und Schönheit eine Rolle spielen. | |
## Identitätspolitik und Klassefrage zusammendenken | |
Der Abschnitt „schwulsein. ne anmerkung“ gibt als eine von mehreren | |
essayistischen Einlagen in „legende“ Aufschluss über das Politikverständn… | |
Schernikaus und ist vor dem Hintergrund aktueller Debatten über | |
Identitätspolitik mit Gewinn zu lesen, als Mahnung, [2][Identitätspolitik | |
und Klassenfrage zusammenzudenken]. | |
In dem Abschnitt beschreibt Schernikau am Beispiel schwuler Identität, | |
inwiefern Abspaltung von Anderem, das durch Benennung als solches erst | |
konstituiert wird, notwendiger Bestandteil der kapitalistischen | |
Vergesellschaftung ist. „solange die elementarsten probleme der menschheit | |
nicht annähernd gelöst sind, ist es absurd, die welt als eine vornehmlich | |
schwulendiskriminierende zu begreifen. wer für die homosexuellen kämpft und | |
nichts darüber hinaus, tut zu wenig“, schreibt Schernikau. | |
Kommunistische Politik müsse, von der je spezifischen Form der | |
Unterdrückung ausgehend, immer auch die Mechanismen in den Blick nehmen, | |
die jene hervorbringen. „Eine wesentliche Intention seines Schreibens war | |
die mitzuteilende Erkenntnis, dass die Formen und Zwänge von Ausbeutung | |
nicht, wie Marx schreibt, als ‚selbstverständliche Naturgesetze‘ akzeptiert | |
werden dürfen, sondern dass die Verhältnisse historisch gewachsen und damit | |
veränderbar sind“, meint Lucas Mielke. | |
Kommunist zu sein bedeutete für Schernikau immer auch, den Menschen etwas | |
zuzutrauen. Es braucht nicht erst die Götter, die auf die Welt kommen! Wenn | |
Schernikaus Texte uns heute noch etwas sagen, dann genau dies: Versucht es. | |
Versucht es trotzdem. | |
## Für Ost und West schwierig | |
Wer den Menschen die Freiheit zugesteht und Möglichkeiten aufzeigt, kann | |
sie jedoch auch verängstigen. Das Offene und Neue ist zwar das Spannende, | |
aber auch das Unübersichtliche und Unkontrollierbare. Eine | |
Auseinandersetzung mit Schernikaus Texten gestaltete sich daher sowohl in | |
Ost als auch in West schwierig. In der DDR wollten seine Texte so gar nicht | |
zu den Normen des sozialistischen Staates passen. Die vielen popkulturellen | |
Bezüge vertrugen sich nicht mit dem häufig spießigen DDR-Sozialismus. | |
Das Manuskript seines Buches „die tage in l.“ wurde zwar von den Lektoren | |
in der DDR gelobt, eine Veröffentlichung jedoch ausgeschlossen. Im | |
westdeutschen Medienbetrieb wurde seinen Texten Sprödigkeit vorgeworfen. | |
Ein Lektor des westdeutschen Stroemfeld Verlags machte einem Text | |
Schernikaus sehr deutlich den Vorwurf, nicht zu wissen, „was er bedeuten | |
soll“. So blieb er hier und da lange ein Fremder. | |
Nach seinem Tod geriet Schernikau weitgehend in Vergessenheit, seine Bücher | |
waren vergriffen oder warteten auf Veröffentlichung. Seit einigen Jahren | |
ist jedoch eine Schernikau-Renaissance im Gange. Den Startschuss gab 2009 | |
die Biografie „Der letzte Kommunist“, geschrieben von Matthias Frings. Im | |
Jahr 2015 folgte die große Konferenz „lieben, was es nicht gibt“ und der | |
gleichnamige Sammelband im Berliner Verbrecher Verlag, in dem nun auch die | |
Werkausgabe herauskommen wird. | |
Ob es mit „legende“ dazu kommen wird, dass „schwul“ und „Kommunist“ | |
gesamtgesellschaftlich keine Schimpfwörter mehr sind, mag man bezweifeln. | |
Als Erinnerung daran, dass es andere Formen von Sexualität, Lebenslauf, | |
Aussehen und auch Gesellschaft geben kann, ist sie jedoch hoch willkommen. | |
28 Aug 2018 | |
## LINKS | |
[1] /Matthias-Frings-ueber-Ronald-M-Schernikau/!5167472 | |
[2] /Debatte-Frauen-und-Identitaetspolitik/!5386544 | |
## AUTOREN | |
Christopher Wimmer | |
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