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# taz.de -- Roman über das Ende einer Beziehung: Die Zeit selbst hat einen Spr…
> Die dänische Autorin Solvej Balle erzählt in ihrem Roman „Über die
> Berechnung des Rauminhalts I“ eine große Liebesgeschichte.
Bild: Wenn Trennung und Naturgesetze durcheinander geraten
„Es ist ein Mensch im Haus“, so lautet der erste Satz dieses Romans. Die
größte Distanz drückt sich in ihm aus. Kein Freund, kein Feind ist da,
niemand, mit dem man etwas teilt außer der Zugehörigkeit zu einer Spezies.
Doch zugleich ist der Erzählerin ebendieser Mensch bestens vertraut. Sie
antizipiert jede seine Handlungen, vermerkt gewissenhaft, wie er durch das
Haus läuft, Bücher verpackt, Gemüse erntet, im Stehen pinkelt.
Das Haus ist auch ihres. Sie hat sich ins Gästezimmer zurückgezogen, das er
nie betritt. Von dort belauscht sie die Verrichtungen des Mannes, mit dem
sie bis gestern eine glückliche Ehe geführt hatte und den sie nun mit
vollem Namen vorstellt. Wie konnte er zu Thomas Selter, wie zu einem
„Menschen“ werden, wie das gemeinsame Zuhause zu einem schlichten Haus?
Die dänische Autorin Solvej Balle erzählt in ihrem Roman „Über die
Berechnung des Rauminhalts I“ von der Entfremdung zweier Liebender. Der
Titel führt jedoch in die Irre, denn diese Fernbeziehung zeichnet sich
nicht durch eine räumliche, sondern eine zeitliche Trennung aus.
Die Buchhändlerin Tara Selter ist während einer Geschäftsreise in eine
Zeitschleife geraten. Sie erwacht seither jeden Morgen am selben 18.
November. Während es für ihren Mann wie auch für den Rest der Menschheit
der erste Tag dieses Datums ist, muss sie ihn Mal für Mal erneut beginnen.
Auch altert sie als Einzige. Alle anderen Figuren begegnen ihr als immer
neue Versionen ihrer selbst, was auch bedeutet, dass Tara keine neuen
Erinnerungen mit ihrem Mann ansammeln kann.
## Keine Schuld
Die Grundidee ist nicht neu, sie hat sogar Filmgeschichte geschrieben.
[1][In „Und täglich grüßt das Murmeltier“ aus dem Jahr 1993] kämpfte si…
Bill Murray als Wettermoderator durch den 2. Februar. Der Plot der Komödie
von Harold Ramis folgte letztlich einem simplen moralischen Programm mit
christlichem Einschlag. Murrays Figur musste erst seinen Zynismus ablegen,
sich für seine Mitmenschen einsetzen und die wahre Liebe finden, um dem
Fegefeuer des Immergleichen zu entkommen.
Dieser Roman ist hingegen nicht so leicht zu entschlüsseln. Da ist keine
Schuld zu entdecken, die gesühnt werden müsste, weder bei Tara noch bei
Thomas. Die beiden sind eng verbunden und vermissen einander sogleich, wenn
sie einige Tage getrennt sind. Man merkt, da passen zwei Menschen
zueinander und es brauchte eine ungeheure Anomalie, um sie zu entzweien.
Auch jetzt halten sie zusammen, suchen zunächst gemeinsam nach einem
Ausweg, versuchen sich dann mit der Situation zu arrangieren. Jeden Morgen
erklärt Tara ihrem Mann erneut von ihrem Unglück.
Doch nach einigen Wochen des so verbrachten Stillstands fühlt sich die
zeitliche Trennung bei physischer Nähe nur noch klarer und schmerzlicher
an. Tara versteckt sich im Gästezimmer, lauscht auf Thomas’ Schritte,
verharrt in respektvoller Entfernung zu seinem Leben. Balle lässt sie in
einem Journal von den Ereignissen berichten. Der Stil ist konzentriert und
schlicht gehalten, mit gefasster Traurigkeit protokolliert die Erzählerin
ihre Tage, nummeriert sie, um wenigstens etwas Orientierung zu bewahren.
Auch im Gästezimmer findet sie keinen Frieden. Bald empfindet sie sich als
Parasit, als Eindringling, der eine fremde Ordnung stört. Nicht alles ist
an jedem Morgen gleich, Tara kann Veränderungen bewirken. So schwinden die
Vorräte im Haus, und die Supermarktregale leeren sich durch ihre Einkäufe.
## Monster in der endlichen Welt
Beschämt notiert sie: „Ich bin ein verzehrendes Wesen geworden, ein Monster
in einer endlichen Welt. Ein Heuschreckenschwarm. Wie lange kann meine
kleine Welt mich verkraften?“
Sie wird ausziehen, ein eigenes kleines Haus anmieten und sich allein in
der parallelen Zeitordnung einrichten. Mit dieser Trennung, nun auch eine
von Tisch und Bett, endet der Roman jedoch nicht. Bis zum Schluss besteht
Hoffnung auf eine Rückkehr in die Linearität, doch ist nicht sicher, ob
diese auch zu einer Wiedervereinigung der Liebenden führt.
Solvej Balle, 1962 in Bovrup geboren, veröffentlich seit ihrem Debüt im
Jahr 1984 in unregelmäßigen Abständen Lyrik und Prosa und übersetzt aus dem
Englischen. Der vorliegende ist der erste Roman eines auf sieben Bände
angelegten Zyklus, Taras Geschichte wird also fortgesetzt.
Mit den ersten drei Teilen gewann Balle [2][den Literaturpreis des
Nordischen Rates], die bedeutendste Auszeichnung für skandinavische
Autorinnen und Autoren und ein zuverlässiger Hinweis für deutsche Verlage,
dass es Bedeutendes zu entdecken gibt.
## Magischer Realismus?
Auffällig sind die Parallelen zu „Nach der Sonne“ von Jonas Eika, ebenfalls
einem Dänen, der 2019 geehrt wurde. Da versinkt mitten in Kopenhagen
plötzlich ein Bürogebäude und jugendliche Lohnsklaven erwecken einen
erschlagenen Gefährten wieder zum Leben.
Wie bei Balle erweisen sich die physikalischen Notwendigkeiten als brüchig,
worauf die Figuren mit erstaunlicher Abgeklärtheit reagieren. So als hätten
sie schon immer geahnt, dass das Wort Wirklichkeit nur dessen oberste
Schicht bezeichnet. Ist der Magische Realismus inzwischen kein
lateinamerikanisches, sondern ein dänisches Programm?
Auch Franz Kafka ist als literarisches Vorbild erkennbar. (Der einzige
bislang ins Deutsche übersetzte Roman der Autorin heißt „Nach dem Gesetz“…
In „Über die Berechnung des Rauminhalts I“ finden sich Bezüge zur
„Verwandlung“, vor allem aber lässt sich die Geschichte als Parabel lesen
und ist als solche, wie bei Kafka, virtuos offen gehalten. Dieser Roman
schillert, alle paar Seiten bietet er eine neue Antwort auf die Frage an,
welche Kraft den Sprung in die Zeit geschlagen hat.
Es wäre möglich, dass sich die Eheleute, ohne es zu bemerken,
auseinandergelebt haben, dass sie plötzlich realisieren, nicht mehr mit den
Augen des anderen sehen zu können. Auch könnte es sich um die Geschichte
einer Emanzipation handeln, weniger politisch denn emotional verstanden,
als Flucht aus einer emotionalen Abhängigkeit.
## Aufgebrauchtes Leben
Dass Tara sich an den vorherigen Tag erinnern kann, Thomas aber nicht,
ließe sich auch als Hinweis auf eine Demenz verstehen. Ebenso plausibel
wäre eine Midlife-Crisis, plötzliche Angst, ein Leben aufgebraucht zu
haben, nichts Neues mehr zu erfahren.
Alle diese Erklärungen ergeben Sinn, doch erweist sich die Meisterschaft
Balles darin, dass sie den Roman nicht bestimmen. Es könnte immer auch
anders sein. Die Kontingenz der Realität, die sich Tara in deren
plötzlicher Veränderung zeigt, ist auch das formale Programm dieser Prosa.
Und selbst, wenn das Ungeheuerliche sich eindeutig auf ein bestens
bekanntes Problem in Liebesdingen beziehen ließe, wenn Balle also nur
feiner, schöner, trauriger von dem erzählte, was auch in Telenovelas zu
sehen ist, so nimmt dieser Stoff hier doch ganz andere Dimensionen an.
Eine Weile beobachtet Tara den nächtlichen Sternenhimmel, es beruhigt sie,
dass ihr eigenes Schicksal im Vergleich so winzig ist. „So unwichtig bin
ich in der Welt. So wenig bedeutet das Tun eines Menschen am achtzehnten
November.“ Balle verfolgt genau die gegenteilige Beweisführung, bei ihr ist
das Private kosmisch.
## Verwirrung der Naturgesetze
Sie legt mit ihrem Roman eine große Liebesgeschichte vor. Groß, weil die
Trennung der Eheleute hier nur mit einer Verwirrung der Naturgesetze zu
beschreiben und zu begründen ist. Anfang der 60er Jahre protestierte die
Country-Sängerin Skeeter Davis mit „The End oft the World“ gegen eine Erde,
die einfach weiterkreist, obwohl sie doch mit dem Verlust des Geliebten
unterzugehen hatte.
Dieser Roman lässt sich als eine völlig unsentimentale Antwort auf diese
vielfach vorgetragene Klage verstehen. Die Welt ändert hier tatsächlich
ihren Lauf, sobald eine Existenz aus dem Tritt gerät, sobald die Liebe
keinen Halt mehr gibt. Sie kommt endlich in Übereinstimmung mit dem Erleben
eines Menschen.
14 Feb 2023
## LINKS
[1] https://www.youtube.com/watch?v=zlepZJsoYcw
[2] https://www.norden.org/sv/literature-prize
## AUTOREN
Michael Wolf
## TAGS
Roman
Ehe
Dänemark
Liebe
Schwerpunkt Leipziger Buchmesse 2024
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Literatur
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