| # taz.de -- Rechtsradikale Mordserie: Dieser Verfassungsschutz macht gleichgül… | |
| > Das Verhalten der Behörde sorgt dafür, dass Bürger das Vertrauen in den | |
| > Staat verlieren, sagt der Leiter der Kriminalpolizei in Mitte in einem | |
| > Gastbeitrag. | |
| Bild: In der Kritik: Bundesamt für Verfassungsschutz | |
| Die Lage nach Bekanntwerden der Mordserie dreier Thüringer Neonazis ist | |
| gekennzeichnet von viel Nebel und markigen Aussagen politisch | |
| Verantwortlicher. Für mich ist nur so viel klar: Von dem, was hier | |
| öffentlich dargestellt wird, glaube ich nicht die Hälfte, genau genommen | |
| fast nichts. Und ich fühle mich bei Gesprächen mit Kollegen, Freunden, jung | |
| oder alt, mit dieser Einschätzung nicht gerade als Außenseiter. Ich halte | |
| es für notwendig, den Gesamtkontext bei der Betrachtung voranzustellen, | |
| bevor schnelle Entscheidungen getroffen werden, die zurzeit vor allem auf | |
| eines abzielen: die Öffentlichkeit besänftigen und dabei den Eindruck von | |
| Entschlossenheit vermitteln. | |
| Die aktuellen Mordtaten sind - jede für sich - schon unfassbar genug. Ihre | |
| scheinbar ungestörte Fortsetzung aber fühlt sich nach Ohnmacht an. Wenn | |
| auch die Verfassung nicht wankt - für tatsächlich oder potenziell | |
| Betroffene fällt doch kein kleiner Schatten auf die Wirksamkeit des | |
| Schutzes unseres Gemeinwesens. Die Verfassung ist aber vor allem dadurch | |
| gefährdet, dass sehr viele Menschen, ohne sich als erklärte | |
| Verfassungsfeinde zu sehen, nach und nach das Vertrauen in staatliche | |
| Einrichtungen verlieren. Das fängt mit Behördendschungel an und endet bei | |
| Institutionen, wie dem unter Ausschluss der Öffentlichkeit operierenden | |
| Verfassungsschutz. Die meisten Bürger haben sich möglicherweise innerlich | |
| schon abgewandt: nicht in einem politisch aufgeklärten Entschluss, aber in | |
| einer nicht weniger gefährlichen Gleichgültigkeit. | |
| Geheim operierende Behörden sind das Gegenteil von dem, was Menschen unter | |
| Transparenz und Rechtsstaatlichkeit verstehen. Das Operieren im Geheimen | |
| wäre als allerletztes Mittel -unter strengster Anlegung des Grundsatzes der | |
| Verhältnismäßigkeit, vorheriger Ausschöpfung aller anderen, geeigneten | |
| Mittel und unabhängiger Kontrolle - vielleicht noch vermittelbar. Der | |
| Eindruck, der sich dem Beobachter aber aktuell stellt, zeigt ein ganz | |
| anderes Bild. | |
| Es ist das Bild einer überbordenden Datensammelwut, bei der kein Mensch | |
| mehr darauf vertraut, dass sich die Nachrichtendienste im Sinne von | |
| Verhältnismäßigkeit eine aus sich heraus bestimmte Bescheidenheit | |
| auferlegen. Eine Datensammelwut, die im Fall der Neonazi-Morde dennoch | |
| nicht zu den Tätern führte. In Skandalsituationen wie gerade wird trotzdem | |
| flugs die Vorplanung für die Erweiterung von Aufgaben und Personal | |
| hervorgezaubert. Wir erweisen uns als handlungsfähig und | |
| entscheidungsbereit. | |
| Nur leider in die falsche Richtung. | |
| Die geheim operierenden Institutionen werden auf diese Weise selber zur | |
| Gefahr für die Verfassung, weil unser Grundgesetz nur dann nachhaltigen | |
| Bestand hat, wenn seine Bürger die staatlichen Handlungsfelder verstehen | |
| und grundsätzlich auch dahinterstehen. Verfassungsschutzbehörden, die auch | |
| nur den Anschein erwecken, als würden sie durch ihre Praktiken | |
| Organisationen wie die NPD wenigstens teilweise eher zu Vitalität | |
| verhelfen, als diese in ihrer Verfassungsfeindlichkeit zu bekämpfen, | |
| gefährden nicht nur ihre Glaubwürdigkeit. Der Staat und seine Einrichtungen | |
| geraten im Ganzen in Misskredit. | |
| Was unsere Gesellschaft braucht, ist deshalb mehr Stärkung dessen, was | |
| unsere Verfassung ausmachen kann, und weniger | |
| Verfassungsschutz-Institutionen, die Vertrauen zersetzen können und deren | |
| Arbeitsergebnisse nicht überzeugen. Unsere eigene, höchstpersönliche | |
| Verfassung und Haltung zum Gemeinwesen, unsere Bereitschaft zu Mitwirkung | |
| und Teilhabe bei einem nie endenden Entwicklungsprozess schützt unsere | |
| Verfassung am stärksten. Hierzu kann jeder seinen Beitrag leisten. | |
| Wichtig ist aber, dass hierin ein Sinn erkannt wird und frustrierende | |
| Erlebnisse nie ein Maß erreichen, das jede konstruktive | |
| Mitwirkungsbereitschaft erstickt. Wir brauchen deshalb politisch | |
| aufgeklärte Menschen, vor deren Einmischung sich dieses Gemeinwesen nicht | |
| fürchtet. | |
| Tatsächlich müssen Politik und Justiz auf Nazi-Provokationen reagieren. Was | |
| wir in den letzten Jahrzehnten erleben, ist wenig geeignet, das Vertrauen | |
| zu stärken. Die NPD gehört nicht in das Spektrum demokratischer Parteien. | |
| Ihre Menschenverachtung ist offensichtlich. Das zu erkennen, bedarf nicht | |
| der Infiltration mit einer Vielzahl von V-Leuten, also Personen, die der | |
| Szene angehören, aber - aus meist weniger rühmlichen Motiven - | |
| Informationen an die Dienststellen weitergeben, wenn es für ihre Interessen | |
| passt. | |
| Und: Eine Mordserie ist kriminalistisch zusammenzuführen. Das gilt für jede | |
| Art von dahinterstehender Motivation. Ob es im vorliegenden Fall an der | |
| Fantasie für ein zusammenführendes "rechtes Motiv" gemangelt hat, weiß ich | |
| nicht. Es ist jedenfalls keine vordringliche Frage von | |
| Verfassungsschützern, sondern kriminalistisches Handwerk. Wenn im Rahmen | |
| der Ermittlungen erhebliche Probleme entstehen, ist es durchaus möglich, im | |
| Strafermittlungsverfahren mit verdeckten Ermittlern - also Polizeibeamten - | |
| oder mit Vertrauenspersonen zusammenzuarbeiten. Hierbei sind aber | |
| Staatsanwaltschaft und Ermittlungsrichter beteiligt. | |
| Mein vorläufiges Fazit. Erstens: NPD verbieten, auch um den Preis eines | |
| relativen Rückzugs von V-Personen und verdeckten Ermittlern. Zweitens: | |
| Strafrechtlich relevantes Verhalten mit den rechtsstaatlichen Mitteln | |
| bearbeiten und bekämpfen. Das sind die Polizei, die Staatsanwaltschaft und | |
| schließlich die Gerichte. Drittens: Eine öffentliche und kritische | |
| Diskussion der Erforderlichkeit unserer Verfassungsschutzdienste. Eine | |
| stärkere Kontrolle dieser. Zu denken wäre an Gremien, die sich zum Beispiel | |
| aus Parlamentariern, Kriminalbeamten und Richtern zusammensetzen könnten. | |
| Und viertens: die Werte der Verfassung durch Teilhabe stärken. Politik und | |
| Wirtschaft wieder zurück zu den Interessen der Menschen orientieren und | |
| Tendenzen zu elitären Parallelgesellschaften eindämmen. | |
| Hat noch jemand Vorschläge? | |
| 23 Nov 2011 | |
| ## AUTOREN | |
| Jochen Sindberg | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Rechter Terror | |
| Schwerpunkt Rechter Terror | |
| Schwerpunkt Rechter Terror | |
| Schwerpunkt Rechter Terror | |
| Schwerpunkt Rechter Terror | |
| Schwerpunkt Rechter Terror | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Debatte Rechtsextremismus: Die Schule kann es richten | |
| Für die Prävention gegen rechten Terror gibt es keine geeignetere | |
| Einrichtung als die Schule. Hier entscheidet sich, welchen Werten Menschen | |
| folgen. | |
| Spätfolgen der Nagelbombe in Köln: Die Sache mit dem "Die" und "Wir" | |
| Sie hatten keine Ahnung, wer hinter dem Anschlag steckte. Trotzdem wurden | |
| Anwohner und Geschäftsleute der Kölner Keupstraße zu Mittätern gemacht. | |
| Sitzung des Justizausschusses: Ein V-Mann in der Terrortruppe? | |
| Die Beziehungen des Landesverfassungsschutzes Thüringen zu der | |
| rechtsradikalen Terrorbande waren offenbar enger als bisher bekannt. | |
| Bekennerschreiben von Nazis: "Es brennt! Heil Hitler!" | |
| Die Ermittler in der Neonazi-Mordserie schauten nicht nach rechts, weil es | |
| keine Bekennerschreiben gab? Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, dass das | |
| selten anders war. | |
| Kommentar Respekt für die Mordopfer: Es geht ums Ganze | |
| Aus Respekt sollte geschrieben werden, wie die Opfer des Naziterrors | |
| tatsächlich heißen. Schluss mit den Abkürzungen! | |
| Bundestagsdebatte zu Nazi-Morden: Jeder gegen jeden, alle gegen Nazis | |
| Bei der Debatte zu den Nazi-Morden im Bundestag hätte man beinahe vergessen | |
| können, dass sich die Fraktionen morgens auf eine gemeinsame Erklärung | |
| geeinigt hatten. | |
| Mordserie der Neonazis: Noch viele Geheimnisse zu lüften | |
| Warum konnte das Nazitrio so lange im Untergrund agieren? Behördenchefs | |
| stellten sich den Fragen der Parlamentarier – und ließen diese | |
| unbeantwortet. | |
| Deutsche Tugenden: Neid, Missgunst, Hass | |
| Die Opfer des "Nationalsozialistischen Untergrunds" arbeiteten als | |
| Migranten in harten Jobs an ihrer Integration. Von ihren Mördern lässt sich | |
| das nicht sagen. |