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# taz.de -- Reader über New Journalism: Der Angriff auf das Allgemeine
> Total hingegeben an den Gegenstand und kalkuliert subjektiv in der
> Darstellung: Der Autor James Agee wird wiederentdeckt.
Bild: Heute wird das Baumwollpflücken maschinell erledigt. Hier in Australien.
James Agee mochte den Journalismus nicht besonders, er verstand sich als
Literat in der Nachfolge eines Whitman, Faulkner, Proust, Joyce etc. Nur
die ganz Großen. Der zeitgenössischen Öffentlichkeit fiel er vor allem auf
als Kino-Kolumnist beim Time-Magazin, später bei The Nation. Dort erschrieb
er sich seinen Ruf als einer der einflussreichsten und jedenfalls
meistgelesenen Filmkritiker der vierziger Jahre.
Auch sein Nachruhm gründet sich vor allem auf seine im weiteren Sinne
journalistischen Arbeiten. Allen voran die lange Reportage „Let Us Now
Praise Famous Men“ über drei Pächterfamilien in Alabama während der Großen
Depression. Im Auftrag der Zeitschrift Fortune sollte er mit dem Fotografen
Walker Evans den harten Alltag der Baumwollpflücker dokumentieren, jener
sharecroppers, die mehr als die Hälfte ihrer Ernte an die Plantagenbesitzer
zu entrichten hatten. Sie waren die modernen Sklaven des maroden
kapitalistischen Systems. Schon der Titel ist sarkastische Anklage und
Geste der Wertschätzung in einem.
Anders als Evans, der für seine Bilder offenbar Distanz braucht und sich in
Pensionen einmietet, logiert Agee direkt in den Pächterhütten. Er arbeitet,
isst und trinkt mit ihnen, becirct die Mädchen, und wenn abends im Zimmer
nebenan der Atem ruhiger wird, fährt er schreibend die Erfahrungsernte des
Tages ein. „Teilnehmende Beobachtung“ wird das die Sozialwissenschaft nur
ein paar Jahre später nennen. Aber Agee hegt große Zweifel, ob er den
Menschen überhaupt gerecht werden kann, ob er ihr Leid nicht ausbeutet.
Auch seine Skrupel schreibt er hinein in diese Text-Bild-Dokumentation, die
er und Evans auch noch weiterverfolgen, als Fortune längst abgewunken hat,
und die auf totales Desinteresse stößt, als sie 1941 dann endlich in
Buchform erscheint. Man hat mittlerweile auf Kriegsökonomie umgestellt –
auch im Geschäft mit der öffentlichen Aufmerksamkeit.
## Viele Ideen, wenig Geduld
Erst Anfang der Sechziger wird das Buch bei seiner Wiederauflage in vollem
Umfang gewürdigt, also neben seiner dokumentarischen auch die ästhetische
Qualität. Und es dauert dann immer noch ein paar Jahre, bis Agees Methode
der totalen Teilhabe und kalkulierten Subjektivität noch einmal neu
erfunden wird – von Hunter S. Thompson, Tom Wolfe, Truman Capote und den
anderen. Er selbst hat den Erfolg des „New Journalism“ nicht mehr
miterlebt, er stirbt 1955, mit 45 Jahren, an seinem dritten Herzinfarkt. In
einem New Yorker Taxi.
Agee war ein großer Trinker, ein Lebemann, einer, der die Party als Letzter
verließ. Er war dreimal verheiratet, hatte vier Kinder, die er
vernachlässigte. Ein unsteter Geist mit tausend Ideen und zu wenig Geduld,
sie wirklich auszuführen.
Das dokumentiert ganz gut ein kurioser Stipendienantrag bei der Guggenheim
Foundation. „Projekte: Oktober 1937“ steht im Zentrum des sehr lesenswerten
Agee-Readers „Da mir nun bewusst wird“, der gerade bei Diaphanes erschienen
ist. Es ist ein Dokument der poetologischen Selbstvergewisserung,
intellektuellen Selbstüberschätzung und maßlosen Neugier.
Über vierzig Forschungs- und Schreibvorhaben skizziert er mehr oder weniger
ausführlich. Ein „Antikommunistisches Manifest“ ebenso wie „eine neue Art
Sexbuch“, eine „Studie über Homosexualität und Football“, eine „Studi…
Pathologie der Faulheit“, eine „Analyse einer Kreuzfahrt“, die
möglicherweise David Foster Wallace’ bekannte Reportage „Schrecklich
amüsant!“ um ein halbes Jahrhundert vorweggenommen hätte, einen
autobiografischen Roman oder die literarische Dokumentation „Stadtstraßen.
Hotelzimmer. Städte“.
## Literarischer Journalismus
Er beginnt die Liste mit den „Aufzeichnungen aus Alabama“ und räumt ihnen
am meisten Platz ein, vermutlich weil dieser Text am weitesten gediehen war
und weil er sich hier zu Recht „neuen Formen des Schreibens“ auf der Spur
wähnte. Es seien dies nämlich keine „journalistischen Aufzeichnungen“,
konstatiert er und meint damit offensichtlich die damals gebräuchlichen
Bedeutung des Wortes, die so etwas wie Objektivität, emotionale und
stilistische Zurückhaltung impliziert. „Vielleicht kann man die Arbeit am
ehesten als ‚wissenschaftlich‘ beschreiben, allerdings nicht in dem Sinne,
wie Wissenschaftler den Begriff verstehen, sondern in einem eigentlich
kritischen und analytischen Sinne.
Die persönlichen Erfahrungen sollen so genau wiedergegeben und analysiert
werden, wie mir möglich ist, wozu auch Formen und Probleme des
Gedächtnisses und der Erinnerung und ihre Überprüfung neben Problemen des
Schreibens und Vermittelns gehören, wobei zwei Punkte besonders wichtig
sind: alles weitestgehend genau zu erzählen und nichts zu erfinden.“
Später kommt er noch einmal drauf zurück: „Erfahrungen, Gefühle und
Gedanken sollen möglichst unmittelbar und in allen Einzelheiten und aller
Komplexität dargestellt werden (zu anderen Zeiten fänden sich darin also
viele Merkmale eines Romans, Berichts, Gedichts)“. Das ist ein frühes
Gründungsprotokoll eines Journalismus, der Literatur sein will. Oder
umgekehrt.
Die meisten Projekte auf der Liste bleiben unausgeführt, aber den
autobiografischen Roman hat er immerhin fast beendet. „Ein Todesfall in der
Familie“, vor einigen Jahren bei C. H. Beck wiederaufgelegt, in dem er den
traumatischen Tod seines Vaters verarbeitet, wird postum mit dem
Pulitzer-Preis ausgezeichnet. Rufus, der siebenjährige Sohn des
verunglückten Clay, ist ein Selbstporträt des Künstlers als sehr junger
Mann.
## Chaotisches Ungestüm
Auch dem Projekt literarischer Ortsbegehungen (“Stadtstraßen. Hotelzimmer.
Städte“) mit dem erklärten Ziel, die Lokalitäten „gemäß ihren eigenen
Bedingungen zu betrachten, nicht als Ausschmückung oder Stimmung in der
Literatur“, hat er sich angenommen: in dem lyrischen Essay „Brooklyn ist.
Südöstlich der Insel. Reisenotizen“, der allerdings erst lange nach seinem
Tod veröffentlicht wird. Man kann den armen Redakteur bei Fortune durchaus
verstehen, der dieses inkommensurable, multiperspektivische, sich in
poetischen Kleinstilluminationen verlierende Stück abgelehnt hat.
Hier hat Agee den an anderer Stelle in „Projekte: Oktober 1937“
postulierten „Angriff auf das Allgemeine durch den Einzelfall“ beispielhaft
umgesetzt. Allerdings stellt sich im Sprühnebel der poetischen Details nur
noch ein verschwommenes Bild ein. Für Jonathan Lethem ist das gerade die
Qualität dieses „Gedichts“, das „gleich dem Herz Brooklyns mit wunderbar…
chaotischem Ungestüm pocht“.
Der Text endet nicht zufällig im Zoo, wo die unbändige Natur eingehegt wird
und wo am Abend der Eisbär, „den vor Einsamkeit halb verrückten Blick auf
das Schwarzbärgehege geheftet“, zu jaulen beginnt – „ein derart
unerschöpfliches wildes Heulen, das den Grund des Herzens gefrieren lässt“.
Mitleidlosigkeit, Selbstgerechtigkeit und Grausamkeit der Spezies Mensch
sind wiederkehrende Motive seiner Satiren, Prosaskizzen, Drehbuchentwürfe
und klassischen Short Storys. Wenn er in „Die mit Tränen säen“ die
unbeholfenen, rührenden Annäherungsversuche eines alten schwulen
Pensionsbesitzers an zwei seiner Gäste beschreibt, den daraus
resultierenden Eklat und in wenigen Strichen auch noch die ganze Tragik
einer Ehe, die es ohne die repressive Sexualmoral nicht gegeben hätte und
die dennoch kein bloßes Zweckbündnis ist, entsteht im Kleinen ein
differenziertes Sittenbild dieser Zeit. Agee ist ein großartiger
Menschenbeobachter, rücksichtslos, aber nicht ohne Empathie.
Auch seine Storys besitzen die Wucht und Überzeugungskraft des Faktischen.
Insofern öffnet er nicht nur den Journalismus für die Literatur, sondern
umgekehrt auch die Literatur für den Journalismus. In seinen besten Texten
haben beide Seiten davon profitiert.
17 Jul 2015
## AUTOREN
Frank Schäfer
## TAGS
Journalismus
Literatur
Unter Schmerzen
Briefe
USA
Journalismus
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