# taz.de -- Radsportrennen „Mailand–Sanremo“: Tag der Tränen | |
> Der Deutsche John Degenkolb zählt zu den Favoriten beim Mailand–Sanremo. | |
> Seine Leidensgeschichte passt zu der herben Historie dieses Rennens. | |
Bild: John Degenkolb im Mai 2016 – da sah er auch traurig aus | |
Tränen hat John Degenkolb bei diesem prestigeträchtigen Rennen schon | |
mehrfach vergossen. Er ist der einzige deutsche Teilnehmer mit Siegchancen | |
beim Frühjahrsklassiker Mailand–Sanremo, der heute zum 108. Mal gestartet | |
wird. Tränen der Enttäuschung waren es, als ihm 2014 ausgerechnet am | |
Anstieg zum Poggio, dem letzten Berg vor der Zielgeraden, die Luft aus dem | |
Reifen wich. Im Jahr danach waren es Tränen der Freude. Eher als Underdog | |
ins Rennen gegangen, überquerte er als Erster den Zielstrich. | |
Der Grundstein für eine große Klassikerkarriere war gelegt. Wochen später | |
gewann er Paris–Roubaix mit den berühmten Kopfsteinpflasterpassagen. Dann | |
kam der Horrorunfall im Frühjahr 2016 in Spanien, als eine Geisterfahrerin | |
ihren Geländewagen in die Trainingsgruppe von Giant Alpecin lenkte. Alle | |
überlebten zum Glück, aber die Szenerie erinnerte Augenzeugen aufgrund der | |
gebrochenen Fahrradrahmen, der am Boden liegenden Fahrer und des vielen | |
vergossenen Bluts an ein Schlachtfeld. Degenkolb musste lange um den | |
Zeigefinger der linken Hand bangen. Eine halbes Jahr brauchte er, um wieder | |
in den Rennsport zurückzukommen. Ende August kam der erlösende erste Sieg | |
nach der Wiedergenesung. | |
Die Leidensgeschichte des John Degenkolb passt in die mythenreiche | |
Geschichte dieses Rennens. Es begann mit einem Fiasko. Die Honoratioren des | |
Badeorts Sanremo hatten Anfang des letzten Jahrhunderts nach einem Event | |
gesucht, der ihnen die Langeweile im Frühjahr vertrieb. Also organisierten | |
sie ein Autorennen. Aber keines für Rennautos, sondern für „kleinkalibrige�… | |
Billigautos, die die Industrie damals produzierte. Es waren offene Wagen, | |
teils Zwei-, teils Viersitzer, die eher an motorgetriebene Handwagen denn | |
an Autos erinnerten. Diese Gefährte sollten in Mailand starten. Sie | |
brauchten aber zwei Tage. Und wie Chronisten jener Tage berichteten, kamen | |
auch nur ganz wenige dieser „vetturette“ (Autochen) genannten | |
Verkehrsmittel in Sanremo an. Im Jahr darauf, 1907, wechselte die | |
Technologie. Radfahrer sollten ran. | |
Um 4.30 Uhr morgens versammelten sie sich auch in Mailand. Die Sonne | |
schlief noch, es regnete aber schon. Wegen der widrigen | |
Witterungsbedingungen trafen nur 33 der ursprünglich 62 angemeldeten Fahrer | |
ein. Noch weniger, 14, beendeten das Rennen. Den Sieg trug der Franzose | |
Lucien Petit-Breton davon. Er gewann im gleichen Jahr auch die Tour de | |
France – der Radsport war noch nicht so ausdifferenziert wie heute, wo | |
Tour-de- France-Sieger gar nicht mehr in Mailand an den Start gehen und man | |
Mailand–Sanremo-Matadoren ab Position 100 im Tourklassement findet. | |
Petit-Breton profitierte allerdings auch von einer der damals weit | |
verbreiteten Absprachen. Er war in einer Dreiergruppe mit Gustave Garrigou | |
– der sollte vier Jahre später die Tour gewinnen – und dem Italiener | |
Giovanni Gerbi vorn. Gerbi, genannt der „rote Teufel“, weil er einmal mit | |
seinem roten Renntrikot in eine kirchliche Prozession gefahren war und der | |
Priester ihn vor Schreck eben als Teufel bezeichnet hatte, Gerbi also | |
rechnete sich wenig Chancen auf einen Sprintsieg aus. Er schlug | |
Teamkollegen Petit-Breton vor, halbe-halbe mit den Preisgeldern zu machen. | |
Petit-Breton schlug ein. Er zog den Sprint an, und Gerbi behinderte so | |
offensichtlich Garrigou, dass man die beiden noch auf den Zielfotos heftig | |
streiten sah. | |
## Unterwegs ein Auto benutzt | |
1910 wurde das „Blumenrennen“ endgültig zur Legende. Es regnete so | |
fürchterlich und war so schrecklich kalt, dass die Fahrer unterwegs Schutz | |
in den Häusern suchten. Nur sieben Fahrer überhaupt erreichten das Ziel. | |
Von denen wurden nur die ersten vier gewertet. Der ursprünglich | |
Zweitplatzierte wurde disqualifiziert, weil er unterwegs ein Auto benutzt | |
hatte. Die Fahrer, die als Sechster und Siebter ankamen, tauchen deshalb | |
nicht in den offiziellen Listen auf, weil die Zeitnehmer längst nach Hause | |
gegangen waren. | |
Für den Ersten, Eugène Christophe, handelte es sich um einen Pyrrhussieg. | |
Den Chroniken zufolge war er derart unterkühlt, dass er einen ganzen Monat | |
im Krankenhaus von Sanremo verbrachte und zwei Jahre brauchte, um seinen | |
alten Leistungsstand wieder zu erreichen. | |
103 Jahre später war bei ähnlichen Bedingungen wenigstens die | |
Service-Infrastruktur intakt. Bei Schneefall wurden die Fahrer in Busse | |
gesteckt und ein Stück in Richtung Sanremo gefahren. Dort starteten sie | |
dann mit den Abständen, die sie vor dem Bustransfer gehabt hatten. | |
Kälteheld war damals Gerald Ciolek. Der Kölner gewann mit gefrorenen | |
Fingern vor einem gewissen Peter Sagan. Der Slowake, mittlerweile | |
zweifacher Weltmeister, ist neben dem Kolumbianer Fernando Gaviria | |
Topfavorit für das heutige Rennen. Aber natürlich will der leiderprobte | |
John Degenkolb ihnen ein Schnippchen schlagen. 2013 – 2015 – 2017: Wäre ja | |
auch eine zu schöne Serie deutscher Erfolge. | |
18 Mar 2017 | |
## AUTOREN | |
Tom Mustroph | |
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