# taz.de -- Racial Profiling bei der Polizei: Ein Gefühl der Ohnmacht | |
> Die Hautfarbe kann darüber entscheiden, ob die Polizei einen kontrolliert | |
> oder festnimmt. Es mangelt an einer Fehlerkultur bei der Polizei. | |
Bild: Der Zug kam, ich ließ meinen Blick schweifen. Das Gleis leerte sich. Jos… | |
Dieser Text ist Teil einer innerredaktionellen Debattenreihe der taz, | |
ausgelöst durch die Kolumne [1][„All cops are berufsunfähig“]. Als | |
pluralistisches Haus verschweigen wir diese Kontroverse um die Arbeit der | |
Polizei und unsere unterschiedlichen Blickwinkel auf diese nicht. Es werden | |
weitere, konträre Texte folgen. Die Beiträge lesen Sie auf unserer | |
Webseite: [2][taz.de/kolumnendebatte]. | |
Es gibt eine Situation, die mein Verhältnis zur Polizei radikal verändert | |
hat. Sie hat nur am Rande mit der [3][deutschen Polizei] zu tun, aber das | |
ist egal, denn irgendwie ist das auch Teil der Geschichte. Ich wollte 2013 | |
eine mir sehr nahestehende Person vom Berliner Hauptbahnhof abholen. Die | |
Person will anonym bleiben, ich nenne sie hier jetzt Jose. Ich wartete am | |
Bahnsteig, der Zug kam, ich ließ meinen Blick schweifen. Das Gleis leerte | |
sich. Jose war nicht da. | |
Ich versuchte anzurufen, das Handy war aus. Hatte Jose den Zug verpasst? | |
War er in den falschen Zug gestiegen? Oder eingeschlafen? Wurde sein Handy | |
geklaut? Ich fragte bei der Bahn nach, ob es einen medizinischen Notfall | |
auf der Strecke gab. Das, was so harmlos anfing, wurde zum Albtraum. Jose | |
blieb verschwunden. Über Nacht entwickelte ich die abstrusesten Theorien. | |
Am nächsten Tag ging ich zur Berliner Polizei. Der Beamte auf der Wache war | |
sehr verständnisvoll, aber für eine Vermisstenanzeige war ich zu früh dran. | |
Er versuchte, mich zu beruhigen: Erfahrungsgemäß tauchten die meisten | |
Menschen nach einiger Zeit wieder auf, sagte er. | |
Er sollte Recht behalten. Ich bekam noch am gleichen Tag einen Anruf, | |
anonyme Nummer, Jose, kurz angebunden: „Mach dir keine Sorgen, ich werde | |
morgen nach Berlin kommen, holst du mich ab? Ich erklär’ es dir später.“ | |
Ich hörte eine ausländische Sprache im Hintergrund, die ich nicht zuordnen | |
konnte, das Gespräch war beendet. | |
## Nacht im Knast | |
Als ich wieder am Bahnsteig stand und Jose ausstieg, lächelte er mich an. | |
Das machte mich wütend. Ich fand überhaupt nichts zum Lachen. Erst mit der | |
Umarmung kam die Erleichterung. Ich fragte: „Wo warst du?“ | |
Jose hatte auf dem Weg von Wien nach Berlin mit einer Gruppe Männer of | |
Color zusammen in einem Abteil gesessen. In Tschechien kontrollierte die | |
Polizei diese Gruppe, die offenbar Drogen geschmuggelt hatte, und nahm sie | |
fest – und Jose gleich mit. Nicht weil er Drogen geschmuggelt hatte. | |
Einfach nur, weil er daneben saß und wie die anderen auch braune Haut | |
hatte. | |
Er landete in U-Haft in einem tschechischen Knast. Er durfte keinen | |
anrufen. Sie ließen ihn erst gehen, als er ein Papier unterschrieb, das ihm | |
drei Jahre die Einreise untersagte. Ansonsten hätten sie ihm den Prozess | |
gemacht. Jose sagte, er will nie wieder darüber sprechen. | |
In diesem Moment fühlte ich nur Ohnmacht. Eine geliebte Person war | |
plötzlich einfach so im Knast gelandet. Klar, das waren tschechische | |
Grenzpolizisten, aber die paar Kilometer Distanz machten für mich keinen | |
Unterschied. Es kam vieles zusammen in diesem Jahr. Der NSU-Prozess hatte | |
damals begonnen. Fragen, die schon immer da waren, wurden lauter: Wen | |
schützt die Polizei, wen nicht? Wen sieht sie als Opfer, wen als Täter*in? | |
Ich habe mir über die Zeit viel angelesen, über das Polizeiversagen in | |
Lichtenhagen, Verstrickungen der Polizei in rechtsextremistische Kreise. Es | |
gibt die krassen Fälle wie den von Oury Jalloh. Aber wie ordnet man dieses | |
Wissen in sein eigenes Leben ein? Wo ist der Maßstab? Plötzlich konnte ich | |
eine Linie der Eskalation erkennen: Von einer alltäglichen rassistischen | |
Kontrolle bis hin zum Tod in einer Zelle. | |
Ich kann kaum zählen, wie oft ich in Deutschland anlasslos kontrolliert | |
wurde. In EU-Grenzbereichen, am Bahnhof, im Auto, mitten auf der Straße. | |
Nur ein einziges Mal verlor ich die Fassung: als ich mit meinem Bruder | |
einfach so am Berliner Hauptbahnhof kontrolliert wurde. | |
Ich sagte den zwei Beamten, dass sie rassistisch seien, dass das, was sie | |
machen, nicht okay sei. Sie reagierten ruhig. Es geht aber nicht darum, ob | |
Polizist*innen nett sind oder nicht. Es geht um Gesetze, die es ihnen | |
erlauben, verdachtsunabhängige Kontrollen durchzuführen. | |
## Reflexangst vor der Polizei | |
Ich selbst habe nie körperliche Gewalt vonseiten der Polizei erfahren. | |
Manche Polizist*innen haben mich abfällig behandelt, die meisten waren | |
höflich. Trotzdem: Nur wegen der Hautfarbe immer wieder kontrolliert zu | |
werden, hat etwas mit mir gemacht. Der Comedian Benaissa Lamroubal hat das | |
in einem Interview mal als „Reflexangst vor der Polizei“ beschrieben. | |
Rassistische Kontrollen stellen Minderheiten unter Generalverdacht, sie | |
nähren das Bild des „kriminellen Ausländers“, sie führen dazu, dass Teile | |
der Bevölkerung das Vertrauen in die Polizei verlieren. Auch Polizist*innen | |
sollten nicht unter Generalverdacht stehen. Aber sie haben sehr viel mehr | |
Macht: Es ist schwer, sich juristisch gegen sie zu wehren. Korpsgeist, | |
Aussage gegen Aussage, wenn man Pech hat: Anzeige wegen Beleidigung oder | |
Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte. Es gibt eine mangelnde Fehlerkultur | |
in der Polizei. | |
Manche behaupten, dass es in der Polizei nur so viel Rassismus gibt wie im | |
Rest der Gesellschaft. Selbst wenn, wen soll das zufriedenstellen? Ein | |
Schwarzer Freund wurde vier Mal auf einer Strecke durch die Stadt | |
kontrolliert, das war sein Rekord. Immer wieder wird er für einen Dealer | |
gehalten. Und es gibt weitere Fälle in meinem Freundeskreis. | |
Wir erleben nicht alle den gleichen Rassismus. Das Geschlecht, das Alter, | |
der Ort, die Kleidung, der soziale Status, die Sprachkompetenz, die | |
angenommene Ethnie, die vermeintliche Religionszugehörigkeit, der | |
Aufenthaltsstatus, all das kann Situationen mit der Polizei beeinflussen. | |
## Ist es denn überall schlimm, nur nicht hier? | |
Die verwundbarsten Menschen dieser Gesellschaft sind auch die | |
verwundbarsten Menschen vor der Polizei. Doch wir müssen nicht die gleichen | |
Schlüsse aus sich ähnelnden Erlebnissen ziehen. Es gibt eine Schnittstelle, | |
wo das Kollektive das Individuelle berührt. Wenn ich meine Eltern frage, | |
wie sie zur deutschen Polizei stehen, sagen sie: „Die deutsche Polizei ist | |
sehr nett.“ | |
Als Vergleichswert haben sie: die indische Polizei. Es erinnert mich daran, | |
dass nach dem Mord an George Floyd viele Menschen nicht müde wurden zu | |
betonen, hier sei es nicht so schlimm wie in den USA. Manche sagen jetzt | |
vielleicht, in Deutschland ist es nicht so schlimm wie in Tschechien. Ist | |
es denn überall schlimm, nur nicht hier? | |
Jasmin Kalarickal, 35, ist taz.eins-Redakteurin. Sie wurde als Kind | |
indischer Einwanderer in Krefeld geboren. | |
27 Jun 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Abschaffung-der-Polizei/!5689584 | |
[2] /Schwerpunkt-Debatte-ueber-Kolumne-in-der-taz/!t5696698 | |
[3] /Rassismus-bei-der-deutschen-Polizei/!5688071 | |
## AUTOREN | |
Jasmin Kalarickal | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Rassismus | |
George Floyd | |
Schwerpunkt Polizeigewalt und Rassismus | |
Schwerpunkt Debatte über Kolumne in der taz | |
Racial Profiling | |
Tschechien | |
Schwerpunkt Rassismus | |
Polizei | |
Polizei | |
Polizei Berlin | |
Schwerpunkt Rassismus | |
Schwerpunkt Polizeigewalt und Rassismus | |
Schwerpunkt Rassismus | |
Black Lives Matter | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Soziologin über Polizei und Rassismus: „Die Polizei ist Schutz und Gefahr“ | |
Für viele Menschen bedeutet weniger Polizei mehr Sicherheit, sagt Vanessa | |
E. Thompson. Sie erklärt, warum Rassismusforschung auch frustrierend ist. | |
Gesetze zu Racial Profiling der Polizei: Diskriminierung nicht ausgeschlossen | |
Die Rechtslage beim Racial Profiling ist weder einfach noch eindeutig. Eine | |
Untersuchung ihrer praktischen Auswirkungen ist dringend erforderlich. | |
„Racial Profiling“ bei der Polizei: Seehofer bläst Studie ab | |
Die versprochene Studie zum sogenannten Racial Profiling in der Polizei | |
kommt nicht. Horst Seehofer hält sie für „nicht für sinnvoll“. | |
Berlins Polizeisprecher über Rassimus: „Wir nehmen keine Hautfarbe fest“ | |
Thilo Cablitz weiß, dass es auch bei der Polizei Rassismus gibt. Aber das | |
sei keinesfalls die Regel, sagt der Chef der Pressestelle der Polizei | |
Berlin. | |
Persönliche Erfahrungen mit der Polizei: Kein kollektiver Pranger | |
Unser Autor kennt Rassismus und Polizeigewalt gut. Warum er trotzdem nicht | |
den kompletten Berufsstand verdammen will, erklärt er hier. | |
Racial Profiling bei den Behörden: „Das Selbstbild der Polizei hat Risse“ | |
Bei den Sicherheitsbeamten regiert oft ein Dominanzgefühl, sagt der | |
Soziologe Rafael Behr. Er spricht sich für unabhängige Beschwerdestellen | |
aus. | |
taz-Kolumne über Polizei: Die Welt ist nicht schwarz-weiß | |
Welche Bedeutung hat die Frage, wer spricht? Kaum etwas ist für junge | |
KollegInnen wichtiger als Identität – und das verändert den Journalismus | |
stark. | |
Polizeifreie Zone in Seattle: Kurzer Frieden | |
AktivistInnen haben in der US-Metropole Seattle eine „Autonome Zone“ ohne | |
Polizei ausgerufen. Zunächst lief es friedlich, doch dann fielen Schüsse. |