| # taz.de -- Psychotherapie-Kongress in Berlin: Die unbedingte Selbstoptimierung | |
| > Forscher kritisieren auf dem Berliner Kongress die neoliberale | |
| > Instrumentalisierung der Psychologie und Psychotherapie. | |
| Bild: „Wie werde ich nur noch besser?“ | |
| „Free your mind – Psychotherapie im Wandel“ war der 30. Kongress der | |
| Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie benannt, der vom 28.2. bis | |
| 4.3. an der FU Berlin stattfand. Dies, so die Organisator*innen, sollte | |
| eine Anregung sein, „über den Tellerrand zu schauen und offen für | |
| Unbekanntes, Neues, Anderes“ zu sein. Nichts hätte die neue Offenheit der | |
| Verhaltenstherapie besser demonstrieren können als die Wahl Leslie | |
| Greenbergs als Eröffnungsredner. Der kanadische Psychologe und | |
| Psychotherapieforscher ist der Begründer der emotionsfokussierten Therapie, | |
| einer Schulen übergreifenden Therapieform, die Methoden der humanistischen | |
| Psychologie einbezieht und Gefühlen einen zentralen Platz einräumt. | |
| Zu dieser Offenheit passte auch, dass sich mehrere Veranstaltungen kritisch | |
| mit der Entwicklung der eigenen Disziplin auseinandersetzten. Einen | |
| Schwerpunkt bildete hierbei die neoliberale Instrumentalisierung von | |
| Psychologie und Psychotherapie: So beschäftigte sich die israelische | |
| Soziologin Eva Illouz in ihrem Eingangsvortrag mit dem Begriff der | |
| „Resilienz“, der schnell Aufnahme in die Populärkultur gefunden hat. | |
| Auch wenn es nicht die ursprüngliche Intention derjenigen war, die diesen | |
| Begriff erfanden, um die psychische Widerstandskraft gegenüber negativen | |
| Lebensereignissen zu beschreiben, wird das Konzept nun vorzugsweise als | |
| Sozialtechnologie beim Militär und in großen Unternehmen verwandt. Das | |
| Antrainieren einer psychischen Hornhaut soll dort die Leidens- und | |
| Leistungsfähigkeit der Mitarbeiter erhöhen. So hat die U.S. Army ein | |
| milliardenschweres Resilienzprogramm aufgelegt, und auch Coca-Cola gibt | |
| große Summen für solche Zwecke aus. | |
| In den USA, wo der Resilienzbegriff stark mit der Positiven Psychologie | |
| verknüpft ist, gilt inzwischen jeder, der negative Lebensereignisse nicht | |
| als Chance zu emotionalem Wachstum begreift, als psychisch unreif. „Sei | |
| resilient!“ wird so zur Aufforderung, die eigene Sensibilität zu verlernen | |
| und sich gegen die Zumutungen unzumutbarer Lebensbedingungen zu | |
| immunisieren. | |
| Das Ergebnis solcher Konditionierungen sind dann „Psytizens“, wie sie der | |
| spanische Psychologe Edgar Cabanas Diaz beschreibt: Individuen, die den | |
| Zwang zur Selbstoptimierung so verinnerlicht haben, dass er ihnen zur | |
| zweiten Natur geworden ist. Sie sind überzeugt, dass ihre Psyche eine | |
| zentrale Rolle für ein gelungenes Leben spielt, und tun alles dafür, sie | |
| mittels Psychotherapie, Coaching und anderer Selbstverbesserungsmethoden zu | |
| modifizieren. | |
| Die Idee, dass es auch gesellschaftliche Einflussfaktoren gibt und dass man | |
| diese verändern könnte, ist ihnen fremd. Freilich wäre die Produktion von | |
| „Psytizens“ nicht so erfolgreich, wenn sich die Psychologie nicht innerhalb | |
| kürzester Zeit zur Leitwissenschaft der westlichen Kultur entwickelt hätte, | |
| von der die Lösung aller individuellen und gesellschaftlichen Probleme | |
| erwartet wird. Wie konnte aus einer ursprünglich emanzipatorischen | |
| Wissenschaft eine tragende Säule neoliberaler Ideologien werden? | |
| ## Säule neoliberaler Ideologie | |
| Darauf versuchte die österreichische Psychotherapeutin Angelika Grubner in | |
| ihrem Vortrag eine Antwort zu geben. Noch im Mittelalter, so Grubner, war | |
| die Vorstellung eines „Subjekts mit Psyche“ unbekannt. Menschen wurden | |
| damals als Gruppenangehörige ohne Innenleben gedacht. Erst die Inquisition | |
| interessierte sich für die Motive hinter den Taten. Mit der Prozedur der | |
| Beichte entstand schließlich die Idee einer Seele, die beobachtet und | |
| kontrolliert werden kann. Aus der Sorge um das Heil der Menschen im | |
| Jenseits wurde in der westlichen Moderne schließlich die Suche nach dem | |
| Heil im Diesseits. | |
| Mit der Entdeckung der Psychoanalyse im 20. Jahrhundert setzte sich das | |
| therapeutische Denken dann endgültig durch. Doch erst der Neoliberalismus | |
| als Gesellschaftsform und Idee eines Kapitalismus ohne soziale | |
| Sicherungssysteme habe einen massenhaften Bedarf an Therapie und Beratung | |
| geschaffen. Die Ausschließlichkeit des „Auf-sich-selbst-Verwiesen-Seins“ | |
| und die damit einhergehende Aufforderung zu Eigenverantwortung und | |
| Selbstoptimierung, so Grubner, ließe die Subjekte nach | |
| psychotherapeutischer Führung lechzen. Therapeutische Angebote würden dabei | |
| als Mittel gesehen, die eigene Marktgängigkeit zu verbessern und sich im | |
| Wettbewerb mit anderen besser durchzusetzen. | |
| ## Verrückt oder weise | |
| Dass andere Kulturen einen anderen Zugang zum menschlichen Innenleben haben | |
| und damit nicht unbedingt schlechtere Resultate erzielen, machte der | |
| Fotograf und Dokumentarfilmer Phil Borges deutlich. Er hatte den Umgang mit | |
| schizophrenen Erkrankungen in westlichen und indigenen Gesellschaften | |
| während der sechs Jahre langen Recherche zu seinem Dokumentarfilm | |
| „Crazywise“ verglichen – mit erstaunlichen Resultaten. | |
| Während westliche Gesellschaften Symptome wie Halluzinationen oder | |
| Stimmenhören als Ausdruck einer schweren Krankheit interpretieren, werden | |
| sie in einigen schamanischen Kulturen als Zeichen einer höheren | |
| Sensitivität verstanden. Wenn solche Symptome auftreten, wird der Person | |
| ein Mentor zur Seite gestellt, der ihn oder sie beim Durchbruch zu einer | |
| anderen Bewusstseinsstufe begleitet und oft selbst ähnliche Krisen erlebt | |
| hat. | |
| Dass dieser unterschiedliche Umgang mit psychotischen Episoden eine | |
| Auswirkung auf die Entwicklung der Krankheit hat, macht eine Studie der WHO | |
| deutlich. Demnach ist die Wahrscheinlichkeit, von einer Schizophrenie zu | |
| genesen, in Entwicklungsländern doppelt so hoch wie in Industriestaaten. | |
| Phil Borges führt das auf das unterschiedliche „Framing“ zurück: Während | |
| Menschen mit psychotischen Symptomen in westlichen Kulturen als „psychisch | |
| Kranke“ meist negativ bewertet werden und die Diagnose oft zur | |
| Stigmatisierung und einem allmählichen Ausschluss aus der Gesellschaft | |
| führt, erfahren sie in den von ihm beobachteten Kulturen eine große soziale | |
| Akzeptanz, weil die Symptomatik dort als Zeichen eines höheren Bewusstseins | |
| gedeutet wird. | |
| Borges betonte, dass er damit keinesfalls indigene Kulturen romantisieren | |
| wolle oder sich gegen die Einnahme von Psychopharmaka ausspreche. Er wolle | |
| dadurch nur zu einem anderen Blick auf das Phänomen anregen. | |
| Crazy or wise? Vielleicht liegen sie tatsächlich näher beieinander, als | |
| uns bislang bewusst gewesen ist. | |
| 8 Mar 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Dagmar Schediwy | |
| ## TAGS | |
| Psychotherapie | |
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