# taz.de -- Psychotherapeuten in Deutschland: Besser keine Nervenkrise in Uelzen | |
> Die Zahl der psychischen Erkrankungen nimmt zu, die Wartezeiten werden | |
> länger. Mit dem Versorgungsgesetz entbrennt ein Streit um die Verteilung | |
> von Therapiepraxen. | |
Bild: Seelenschmerz: im Versorgungsstreit geht es auch um die Behandlungskonzep… | |
Regine Wegener*, 46jährige Erzieherin in Berlin, hatte heftige | |
Angstattacken bekommen. Bei einem Psychiater erhielt sie eine Liste von | |
TherapeutInnen und telefonierte herum. Sie landete auf Anrufbeantwortern, | |
eine Therapeutin rief schließlich zurück und bot ein Erstgespräch an. | |
"Sonst wäre ich in die Aufnahme einer Klinik gegangen", erzählt Wegener, | |
"wenn man in der Krise ist, möchte man so schnell wie möglich einen | |
Ansprechpartner haben". | |
Wegener konnte nach vier Wochen mit der Behandlung beginnen und hatte dabei | |
Glück. Die meisten Patienten warten länger auf einen Platz. Die Wartezeiten | |
für eine Psychotherapie betragen in großen Städten wie Berlin, Hamburg oder | |
München knapp neun Wochen, im Bundesdurchschnitt 12,5 Wochen. Ein Streit | |
ist jetzt entbrannt über die regionale Verteilung von PsychotherapeutInnen | |
in Deutschland. Denn das kommende Versorgungsgesetz erlaubt es den | |
kassenärztlichen Vereinigungen, die Zahl der Niederlassungen einfacher als | |
bisher regional zu steuern. | |
Laut dem Versorgungsgesetz, das im nächsten Jahr in Kraft treten soll, | |
können die kassenärztlichen Vereinigungen in vermeintlich "überversorgten" | |
Regionen mit einem Vorkaufsrecht Praxissitze erwerben und stillegen, wenn | |
der Inhaber in Ruhestand geht. Ein Gutachten der Baseler Prognos AG für den | |
GKV-Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen kommt sogar zu dem | |
Schluss, dass bei den PsychotherapeutInnen in Deutschland wegen | |
"Überversorgung" 3.500 Praxen abgebaut werden könnten. | |
Die zugrundeliegende Rechnung ist jedoch umstritten, denn als Basiswert | |
einer 100 prozentigen Versorgung dient die Zahl der niedergelassenen | |
PsychotherapeutInnen im Jahr 1999. Da seitdem immer mehr Praxen eröffneten, | |
gelten fast alle Gebiete in Deutschland automatisch als "überversorgt"- | |
trotz der steigenden Zahl psychischer Diagnosen. "Psychotherapeutische | |
Praxen aufzukaufen und stillzulegen ist angesichts des hohen Bedarfs der | |
völlig falsche Weg", erklärt Rainer Richter, Präsident der | |
Bundespsychotherapeutenkammer. | |
## Ambulante Therapien sind ökonomisch sinnvoll | |
Ein kürzlich veröffentlichtes "Qualitätsmonitoring" der Techniker | |
Krankenkasse ergab, dass sich jeder für die ambulante Therapie ausgegebene | |
Euro "mehr als zweifach auszahlt", wenn man den Gewinn durch die | |
wiederhergestellte Arbeitsfähigkeit der Klienten gegenrechne. Ambulante | |
Therapien helfen zudem, teure stationäre Aufenthalte zu vermeiden. | |
Klinikeinweisungen wegen Depressionen etwa nehmen stark zu, wie kürzlich | |
ein Report der Barmer GEK zeigte. | |
Die Krankenkassen möchten vor allem eine gleichmäßigere regionale | |
Verteilung der Praxissitze erreichen. Auf rechnerisch 100 000 Einwohner | |
kommen etwa in Freiburg 118, in Uelzen aber nur 19 PsychotherapeutInnen. | |
"Wir würden es befürworten, dass in kleinstädtischen oder ländlichen | |
Regionen mehr Praxen eröffneten", sagt TK-Sprecherin Michaela Hombrecher. | |
"Wir brauchen weniger Psychotherapeuten in den Städten und mehr auf dem | |
Land", erklärte unlängst auch der stellvertretende Vorstandsvorsitzende der | |
Barmer GEK, Rolf-Ulrich Schlenker. | |
Doch die kassenärztlichen Vereinigungen halten sich in Fragen der | |
regionalen Umgewichtung bedeckt. Man werde erstmal prüfen, "welche Rolle | |
die Praxen für die Versorgung vor Ort und im Umland spielen", sagt Roland | |
Stahl, Sprecher der kassenärztlichen Bundesvereinigung der taz. | |
Im Versorgungsstreit geraten auch die Behandlungskonzepte ins Blickfeld. | |
Derzeit bekommen die Erkrankten bei verhaltenstherapeutisch oder | |
tiefenpsychologisch arbeitenden Behandlern meist Blöcke von 25 oder 50 | |
Einzelstunden bewilligt, oft mit wöchentlicher Frequenz. Nach Ansicht von | |
Schlenker ließen sich mit mehr "Kurzzeit- und Gruppentherapien" | |
"Wartezeiten und Kapazitätsengpässe überbrücken". | |
Regine Wegener sieht das kritisch. Die Erzieherin ist nach dem Ende ihrer | |
Verhaltenstherapie in eine Selbsthilfegruppe eingetreten, mehr als 50 | |
Selbsthilfegruppen für Leute mit psychischen Problemen sind allein in der | |
Berliner Datenbank Sekis verzeichnet. "In Krisen unbürokratischer mal ein | |
paar Gespräche zu bekommen, wäre schon gut", meint Wegener, "das kann aber | |
nicht Ersatz sein für eine Psychotherapie". | |
*Name geändert | |
7 Sep 2011 | |
## AUTOREN | |
Barbara Dribbusch | |
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