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# taz.de -- Gesetzliche Krankenkassen: Brisantes Attest unter Verschluss
> Hält Gesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) ein Gutachten zurück, um seine
> Klientel zu schonen? Sein Ministerium bestreitet Vorwürfe des
> AOK-Vorstands.
Bild: Gesundheitsminister Bahr beim Besuch einer Arztpraxis in Oranienburg.
BERLIN taz | Der Bundesvorstand der Allgemeinen Ortskrankenkassen (AOK)
erhebt schwere Vorwürfe gegen den Bundesgesundheitsminister: Daniel Bahr
(FDP) halte bewusst und seit bald einem halben Jahr ein wissenschaftliches
Gutachten des Bundesversicherungsamts (BVA) unter Verschluss, das für eine
gerechtere Verteilung der Finanzmittel unter den gesetzlichen Krankenkassen
sorgen könnte.
Das Geld aus dem Gesundheitsfonds, beklagt der designierte
AOK-Vorstandschef Jürgen Graalmann, komme nicht ausreichend dort an, wo es
für die Versorgung benötigt werde. "Kassen mit älteren und kranken
Mitgliedern werden diskriminiert", sagt Graalmann. Also auch die AOK. Denn
obwohl sie ansonsten gut gewirtschaftet hätten, drohe manchen dieser Kassen
deswegen nun die Insolvenz. Oder ihren Mitgliedern höhere Zusatzbeiträge.
Die Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds seien für Krebskranke um 15 bis 50
Prozent zu niedrig kalkuliert. Für über 90-Jährige erhielten die Kassen nur
75 Prozent ihrer tatsächlichen Kosten zurück. Unmut gibt es auch darüber,
dass die Kosten für Verstorbene nicht aufs ganze Jahr hochgerechnet werden.
Ein Beispiel: Für einen Versicherten, der im ersten Halbjahr 10.000 Euro
Kosten verursacht und im zweiten Halbjahr gar keine, können die Kassen
20.000 Euro ansetzen. Stirbt er aber Ende Juni, bleibt es bei dem
tatsächlichen Betrag.
Nach taz-Informationen hat das Gutachten diverse Methodenfehler ermittelt,
die zu einer systematischen finanziellen Benachteiligung von Kassen mit
älteren und chronisch kranken Mitgliedern führen. Beauftragt hatte es das
Gesundheitsministerium Ende 2010 bei einem eigens eingerichteten
wissenschaftlichen Beirat beim Bundesversicherungsamt in Bonn, der
Aufsichtsbehörde der gesetzlichen Krankenkassen. Der Arbeitsauftrag: eine
zielgenauere Zuweisungsmethode zu entwickeln. Der Streit um die Finanzen
tobt schließlich seit Jahren.
## Fachleute wollen Gutachten begutachten
Der Minister, unterstellt nun AOK-Chef Graalmann, zögere die
Veröffentlichung absichtlich hinaus, "um eine mögliche Nachjustierung
faktisch zu verhindern". Bahr habe Angst, es sich mit seiner potenziellen
Wählerklientel zu verscherzen: Jede etwaige Änderung in dem jetzigen
Zuweisungsschlüssel ginge zu Lasten von Krankenkassen mit gesunden, jungen
und artikulationsstarken Mitgliedern. Ein Ministeriumssprecher wies die
Vorwürfe zurück. Tatsächlich liege das Gutachten zwar seit Mai 2011 dem
Ministerium vor, müsse aber zunächst "von unseren Fachleuten begutachtet"
werden. Im Übrigen stehe es dem Bundesversicherungsamt frei, sein
Klassifikationssystem jedes Jahr anzupassen - unabhängig von dem aktuellen
Gutachten.
Es sind aber ausgerechnet die Ergebnisse des Gutachtens, die, wie die taz
aus Ministeriumskreisen erfuhr, Handlungsbedarf erkennen lassen. So stellt
der wissenschaftliche Beirat fest, dass bei der Mittelverteilung über den
sogenannten morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich, kurz
Morbi-RSA, nur 80 Krankheiten erfasst werden. Um die systematische
Unterdeckung einiger Kassen zumindest "tendenziell" zu reduzieren, sei eine
Komplettierung der Krankheitsliste sowie die stärkere Berücksichtigung der
Verstorbenen nötig.
Dem Morbi-RSA gelinge es überdies nicht, regionale Unterschiede ausreichend
zu nivellieren. Zudem erweise sich das Instrument, das einst für mehr
Gerechtigkeit sorgen sollte, als stark manipulationsanfällig: So hätten
bestimmte Krankheiten, für die die Kassen einen besonders hohen
finanziellen Ausgleich bekämen, seit Einführung des RSA um erstaunliche 5
bis 8 Prozent zugenommen. Rein demografisch sei dieser Anstieg nicht
erklärbar.
11 Sep 2011
## AUTOREN
Heike Haarhoff
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