# taz.de -- Psychologe über sexualisierte Gewalt: „Die Betroffenen schämen … | |
> In der Ukraine wird deutlich: Auch Männer erfahren im Krieg sexualisierte | |
> Gewalt. Warum der Umgang damit so schwerfällt, erklärt Yuriy Nesterko. | |
Bild: Ein Bürostuhl steht in einem Kellergeschoss in Kherson. Hier sollen Mens… | |
wochentaz: Herr Nesterko, [1][sexuelle Gewalt als Kriegswaffe] ist schon | |
länger Thema. Durch Bilder von männlichen Leichen mit abgeschnittenen | |
Genitalien werden im Ukrainekrieg nun auch Männer als Opfer sichtbar. | |
Wieso erst jetzt? | |
Yuriy Nesterko: Sexualisierte Gewalt in Kriegssituationen gab es schon | |
immer. Allerdings kommt Gewalt an Frauen um ein Vielfaches häufiger vor als | |
Gewalt an Männern. Und diese reagieren häufig anders. | |
Wie? | |
Die Betroffenen schämen sich und haben vor allem Angst vor Stigmatisierung. | |
Woran liegt das? | |
Das hat insbesondere mit dem nach wie vor existierenden archaischen | |
Männlichkeitsbild zu tun: Ein Mann muss stark sein, ein Mann darf keine | |
Schwäche und sich nicht verletzlich zeigen. Er hätte sich wehren müssen und | |
muss nun das Erlebte mit sich allein klären. Aber das Prinzip ist dasselbe: | |
Vergewaltigungen, als eine der schlimmsten Formen sexueller Übergriffe, | |
sind [2][Gewaltakte mit Symbolcharakter.] Sie repräsentieren Macht, eine | |
Überlegenheit der Täter, die Betroffenen sollen unterworfen und Männer | |
entmännlicht werden. | |
Das Bild des harten Mannes erfährt angesichts des russischen [3][Krieges | |
gegen die Ukraine] eine Renaissance: Soldaten gelten als Helden, Waffen | |
sind das neue Spielzeug des Mannes. | |
Das ist in der Tat ein Dilemma – und ein großes Missverständnis: [4][Krieg | |
und Wehrhaftigkeit] beziehungsweise Verteidigung werden oft gleichgesetzt, | |
sind aber nicht das Gleiche. Wehrhaftigkeit ist keine Form von Macht oder | |
Machtdemonstration, sondern eine Haltung, mit der Gewalt entgegengetreten | |
wird, um den Krieg zu beenden. Wohingegen Krieg und Machtdemonstration | |
durchaus eine Einheit bilden: Wer einen Krieg beginnt, will Macht zeigen | |
und diese mit allen Mitteln durchsetzen. | |
Es gibt nicht nur die grausamen Bilder aus der Ukraine, sondern auch | |
Dokumente aus anderen Kriegen, etwa aus Ruanda, Uganda, dem Kongo, dem | |
früheren Jugoslawien. Warum bleibt eine Debatte zu Männern als | |
Vergewaltigungsopfer dennoch aus? | |
Das ist eine Frage der Diskursgeschwindigkeit sowie eine Frage sprachlicher | |
Narrative. Uns fehlen die richtigen Worte, um zu beschreiben, was in der | |
Ukraine im Zusammenhang mit sexualisierter Gewalt passiert. Deswegen dauert | |
es länger, bis eine öffentliche Debatte dazu wirklich beginnt. | |
Es gibt doch Begriffe dafür, wir beide verwenden sie ja auch gerade. | |
Die Betroffenen selbst haben dafür keine Sprache. Sexualisierte Gewalt ist | |
mit einem großen Tabu belegt, es gibt kaum Räume für Betroffene, um darüber | |
zu reden und gehört zu werden. | |
Wir kennen die Bilder aus dem [5][Gefängnis Abu Ghraib], in dem irakische | |
Gefangene durch US-amerikanisches Wachpersonal misshandelt wurden. Sie | |
gelten als Folteropfer, obwohl sie auch vergewaltigt wurden. | |
Viele Folterpraktiken gerade an Männern sind sexualisierte Gewalt, wie | |
beispielsweise Stromschläge im Genitalbereich. Die Betroffenen selbst | |
wissen das oft aber gar nicht und würden das daher nie so beschreiben. | |
Damit sind wir wieder bei den fehlenden und den mit Tabu und Stigma | |
belegten Worten. | |
Ist es nicht an der Zeit, diese Taten als das zu bezeichnen, was sie sind? | |
Ich bin überzeugt, dass eine genauere Benennung viel dazu beitragen würde, | |
den Diskurs zu sexualisierter Gewalt auch an Männern als Kriegsgewalt zu | |
beschleunigen. Wir sehen das ja auch in anderen Fällen, beispielsweise beim | |
sexuellen Missbrauch in der Kirche oder bei der MeToo-Debatte. Sobald ein | |
Gewaltphänomen korrekt beschrieben ist, wird darüber in der Gesellschaft | |
mehr diskutiert. | |
Früher wurden Betroffene sexualisierter Gewalt als Opfer bezeichnet. Heute | |
ist der Begriff umstritten. Aber beschreibt er nicht genauer, was den | |
Leidtragenden widerfahren ist? | |
Aus den Berichten und Gesprächen mit betroffenen Männern aus | |
unterschiedlichen Ländern und Konflikten, darunter aus dem Krieg gegen die | |
Ukraine, wissen wir: Manche Männer bezeichnen sich als Opfer. Sie wollen, | |
dass die Welt erfährt, welches Unrecht ihnen widerfahren ist. Und sie | |
wollen, dass das Umfeld, in dem sie sich bewegen, dieses Unrecht anerkennt. | |
Sie kämpfen um ihr Recht, das erfordert Mut und trotzt der häufig | |
abwertenden Konnotation des Wortes „Opfer“. | |
Und die anderen? | |
Diejenigen, die das Wort „Opfer“ vermeiden, wissen genau, was ihnen | |
passiert ist. Aber sie fürchten, dass sie, sobald sie die sexualisierte | |
Gewalt versprachlichen, aus dieser Definition nicht mehr herauskommen. | |
Durch das Schweigen wollen sie ihre Resilienz gegen das Erlebte nicht | |
gefährden. Das ist eine durchaus verständliche psychische Abwehr. | |
Sexualisierte Gewalt als Kriegswaffe wird nicht nur als Machtdemonstration | |
eingesetzt, sondern auch, um Frauen „unrein“ zu machen und aus ihren | |
Gemeinschaften auszuschließen. Funktioniert das bei Männern genauso? | |
Die „Verunreinigung“ der Männer erfolgt im Zuge der Vergewaltigung durch | |
eine vermeintliche Feminisierung oder Homosexualisierung. Oder auch | |
dadurch, dass Männer infolge der Folter nicht mehr zeugungsfähig sind. | |
Dadurch setzt der Aggressor ein Zeichen der Unterwerfung und „fehlender | |
Wehrhaftigkeit“ aufseiten des Betroffenen. | |
Um es äußerst zynisch zuzuspitzen: Ein am Leben gebliebener, vergewaltigter | |
Soldat ist für die Gegenseite von größerem Nutzen als ein toter Soldat? | |
Der Betroffene lebt, wenn man so will, als Ausdruck der Übermacht, als | |
lebendige Erinnerung einer „Superpotenz“. Das ist überaus perfide. | |
Löst sich bei sexualisierter Kriegsgewalt die Geschlechterdichotomie auf? | |
Aus Sicht der Betroffenen nicht. Frauen haben, allein weil sie durch eine | |
Vergewaltigung schwanger werden können, noch mit ganz anderen Folgen der | |
Gewalt zu kämpfen als Männer. Und Frauen sind nach wie vor sehr viel | |
stärker von Vergewaltigungen betroffen als Männer. | |
Wo finden betroffene ukrainische Männer in Deutschland Hilfe? | |
Ukrainische Männer, die Erlebnisse dieser Art verarbeiten müssen und in | |
Deutschland ankommen, können sich an psychosoziale Zentren wie das | |
„[6][Zentrum Überleben]“ in Berlin wenden. Darüber hinaus gibt es einige | |
wenige Spezialeinrichtungen, bei denen von Gewalt betroffene Männer, | |
darunter auch Geflüchtete, Hilfen finden können. Insgesamt ist aber die | |
Versorgungssituation unzureichend, und wir haben noch einen langen Weg vor | |
uns, um sie zu verbessern. | |
15 Jan 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Sexuelle-Gewalt-als-Kriegswaffe/!58950https://taz.de/Sexuelle-Gewalt-als-K… | |
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[5] /US-Soldaten-misshandelten-Gefangene/!5275452 | |
[6] https://www.ueberleben.org/ | |
## AUTOREN | |
Simone Schmollack | |
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