| # taz.de -- Proteste in Istanbul: Tränengas im Foyer | |
| > Gaswolken, tränende Augen, verätzte Haut, schreiende Menschen. Wie unsere | |
| > Autorin die Nacht in einem Hotel neben dem Gezi-Park erlebt hat. | |
| Bild: Wichtigstes Utensil derzeit: Gasmasken. | |
| ISTANBUL taz | Um kurz nach 20 Uhr beginnt der Sturm. Ich sitze in der | |
| Lobby des Gezi Hotels und tippe ein Interview ab, da kommen die ersten | |
| Meldungen rein. Die Polizei würde Warnungen auf dem Taksim-Platz, 200 Meter | |
| von hier, durchsagen, die Leute sollten sich zurückziehen. Darauf bin ich | |
| nicht vorbereitet, niemand hatte mit einem Angriff vor Montagfrüh | |
| gerechnet. Zu voll der Park, zu entspannt die Stimmung. | |
| Aber schon mit der Rede Erdogans wurde es unruhiger. In den Stunden zuvor | |
| herrschte Unsicherheit darüber, was Erdogan plant. Aber in einem waren sich | |
| alle sicher: Trauen kann man ihm nicht. Und so ist es. Es geht auf einmal | |
| ganz schnell, ich habe keine Gasmaske und keinen Helm und kann so nicht | |
| raus. | |
| In der Lobby sammeln sich Demonstranten, alle mit geröteten und tränenden | |
| Augen, der Park auf der gegenüberliegenden Straßenseite ist hinter | |
| Gaswolken verschwunden. Die Hotelmitarbeiter lassen Fliehende rein und | |
| beruhigen: „Hier seid ihr sicher, wir beschützen euch, ihr seid Zuhause.“ | |
| Jedes Mal wenn die Tür aufgeht, kommt Gas herein. Die Augen beginnen zu | |
| brennen. | |
| ## Ihre Wut ist bedrückend | |
| Eine junge Frau schaut mich an, zieht sich die Gasmaske vom Kopf und drückt | |
| sie mir in die Hand. Ich schüttele abwehrend die Hände, aber sie besteht | |
| darauf, sie habe noch eine Wundermaske. Es ist eine Sprühflasche mit einer | |
| Lotion, die sie sich jetzt ins Gesicht sprüht. | |
| Ein junges Mädchen kommt schreiend rein, reißt sich die Stoffmaske vom | |
| Gesicht, lässt sich in einen Sessel fallen und fängt laut an zu schluchzen. | |
| Sie hat eine volle Ladung Gas abgekriegt. Sie bekommt Lotion, man redet | |
| beruhigend auf sie ein, nimmt sie in den Arm. Sie springt wieder auf, läuft | |
| fluchend durch die Lobby, ihre Wut ist bedrückend. | |
| Alle stehen ratlos herum, laufen hin und her, wissen nicht wohin mit sich, | |
| starren nach draußen. Vorne ist vor Gas nichts zu sehen, hinter dem Hotel | |
| steht eine kleine Gruppe Polizisten in Zivil mit Schutzschilden und Helmen. | |
| Sie stehen dort lange. Auf einmal werde ich an der Schulter gepackt, die | |
| Freundin, die in dem Hotel wohnt, zieht mich weg ins hintere Treppenhaus | |
| und schiebt mich nach oben. Die junge Frau, die mir die Gasmaske gegeben | |
| hat, kommt hinterher, ich will, dass sie die Maske wieder an sich nimmt. | |
| „Keep it. Keep it“, sagt sie. Ich schüttele den Kopf. Sie will nochmal | |
| raus, hatte sie gesagt, sie wird sie brauchen. | |
| Wir sind im neunten Stock, Blick auf den Bosporus und einen Parkplatz | |
| voller Busse der Polizei. Der Fernseher läuft. Kamerateams werden nicht in | |
| den Park gelassen, CNN berichtet live vom Taksim-Platz am Parkeingang. Beim | |
| türkischen Sender NTV heißt es, die Polizei wehre sich lediglich gegen | |
| provozierende Demonstranten. Das wirkt wenig glaubhaft. Im Park war eine | |
| unglaublich friedliche und heitere Stimmung den ganzen Tag über. | |
| ## Twitter, Fernseher, Warten und Hoffen | |
| Es beginnen Stunden des Twitter Lesens, Fernsehens. Warten, hoffen, bangen. | |
| Mal ist es gespenstisch still, dann wieder sind Sirenen zu hören – | |
| Krankenwagen, die Richtung Besiktas fahren, wie es scheint. Die | |
| Informationen von draußen widersprechen sich, gehen durcheinander: Sind da | |
| wirklich Zehntausende auf den Straßen und Autobahnen, die in unsere | |
| Richtung und zum Taksim-Platz wollen? | |
| Besonders die Nachrichten und Bilder aus dem Divan Hotel beunruhigen. Die | |
| Polizei schießt angeblich Gaskartuschen hinein und greift mit Wasserwerfern | |
| an. Kann das sein? Warum machen die das? Wissen sie nicht von den | |
| Verletzten, Kindern und Journalisten, die dort sind? Ein [1][Bild von | |
| Claudia Roth], die nach dem Gasangriffen behandelt wird. [2][Bilder zeigen | |
| Kinder], die von Tränengas getroffen wurden. | |
| Auch das Hilton Hotel wird zum Ziel der Polizisten, sie stürmen in die | |
| Lobby und nehmen Einzelne fest, [3][ein Video davon geht rum]. Wir sind | |
| gerade nochmal unten in der Lobby, als die Nachricht kommt, auch das Hyatt | |
| und das Point Hotel seien angegriffen worden. Wir wissen nicht, ob das | |
| stimmt, ziehen uns aber lieber wieder in den neunten Stock zurück, unten | |
| trennen uns nur die Fensterscheiben von der Polizei und ihren | |
| Wasserwerfern. | |
| Istanbuls Gouverneur spricht im Fernsehen und sagt, alle hätten genug Zeit | |
| gehabt, den Park zu verlassen und die, die beim Angriff noch da waren, | |
| seien „Radikale und Provokateure“ gewesen. Es macht so wütend. Der | |
| Europaminister der Türkei warnt, alle die zum Taksim-Platz laufen, würden | |
| „wie Terroristen behandelt“. | |
| ## Bilder von verätzter Haut | |
| Vier Stunden später ist der Park voll mit Räumarbeitern, Bagger und viele | |
| Müllwagen stehen bereit, die abgerissenen Zelte, Transparente, Schirme und | |
| Decken abzutransportieren. Das Lazarett im Park bleibt noch eine Weile | |
| stehen, die Arbeiter gehen mit Taschenlampen durch und tragen Tüten raus. | |
| Über Twitter geht rum, das Wasser in den Wasserwerfern sei mit Gas (Säure?) | |
| versetzt, Bilder von verätzter Haut sind zu sehen. [4][Listen mit Namen von | |
| Kindern], die ohne ihre Eltern unterwegs sind und von Anwohnern in die | |
| Häuser geholt wurden, werden geteilt, [5][ein Video zeigt], wie ein Mann | |
| von einem Wasserwerfer überfahren wird und Leute versuchen, ihn darunter | |
| wegzuziehen. Ist das Video wirklich aus dieser Nacht? Echt wirkt es. Und | |
| immer wieder die Bilder von den Straßen rund um Beyoglu. | |
| Auf der asiatischen Seite sammeln sich offenbar Tausende, um über die | |
| [6][Bosporusbrücke in Richtung Taksim-Platz zu ziehen]. Vom Hotelzimmer aus | |
| ist die Brücke zu sehen und Autolichter. Sie sind schnell, es wirkt nicht | |
| so, als könnte da irgendwo eine Menschenmenge stehen. | |
| Aber wenn es doch stimmt? Wenn die Zehntausenden, von denen die Rede ist, | |
| durchkommen, was dann? Das würde zum Bürgerkrieg ausarten. Später heißt es, | |
| sie werden von Polizei mit Gasangriffen auseinander getrieben, das wird | |
| nochmal später wieder dementiert. Wir schauen runter auf die Stadt, glauben | |
| Gaswolken zu sehen, schließen das Fenster. | |
| Um fünf gehen wir erneut in die Lobby, es ist ruhig, die Hotelangestellten | |
| bauen das Frühstücksbüffet auf. Es dauert noch und ich gehe wieder hoch, | |
| lege mich aufs Bett, die Sonne steht über dem Bosporus und scheint mir ins | |
| Gesicht. Diese Stadt ist so unglaublich schön, unglaublich, was hier | |
| passiert und was ich von hier nicht sehen kann. | |
| Ich schlafe zwei Stunden, kriege noch Frühstück und will dann weg. Raus aus | |
| dem Kriegsgebiet. Draußen ist alles voll mit Polizei, wenn wirklich die | |
| Demos am Nachmittag auf dem Taksim stattfinden sollen, komme ich hier | |
| weitere 24 Stunden nicht weg. An der Lobby sagt der Hotelangestellte, Taxis | |
| würden keine kommen, aber ich könne ruhig laufen, draußen sei ja die | |
| Polizei und es sei sicher. | |
| Er begleitet mich zum Geldautomaten am nächsten Gebäude. Der funktioniert | |
| tatsächlich. Ich laufe die Straße runter, die Ecke, an der es links zum | |
| Divan Hotel geht, ist abgesperrt. Ich laufe rechts, vor mir sind zwei junge | |
| Mädchen, sie scherzen und lachen. Noch einmal biege ich ab, laufe an etwa | |
| 20 auf dem Boden sitzenden Polizisten vorbei. Dann kommt ein Taxi. Ich bin | |
| raus. | |
| 16 Jun 2013 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://twitter.com/jan_wienken/status/346035887915802624 | |
| [2] http://twitter.com/omerkanipak/status/346008180523945984/photo/1 | |
| [3] http://t.co/G6wGEN3z65 | |
| [4] http://divandakicocuklar.wordpress.com | |
| [5] http://www.youtube.com/watch?v=dm6bQBqV7VI&feature=youtu.be | |
| [6] http://occupygezipics.tumblr.com/post/53066757656/people-seem-to-have-succe… | |
| ## AUTOREN | |
| Frauke Böger | |
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