| # taz.de -- Im Istanbuler Divan-Hotel: „Sie wollen uns umbringen“ | |
| > Auf der Flucht vor Polizei und Reizgas finden die aus dem Gezi-Park | |
| > Vertriebenen Hilfe in den Räumen einer Nobelherberge. Polizisten feuern | |
| > Gaspatronen hinein. | |
| Bild: Rücksichtsloses Vorgehen: Die Polizei beschießt das Hotel mit Gaspatron… | |
| ISTANBUL taz | Es ist etwa sieben Uhr morgens, als Angestellte des | |
| Divan-Hotels die in allen Winkeln der Lobby kampierenden Demonstranten | |
| behutsam aufscheuchen. Man wolle das Hotel reinigen, erklären sie in | |
| ausgesuchter Höflichkeit, ob die Gäste sich nicht für eine Weile auf die | |
| Terrasse zurückziehen mögen. Sofort springen viele auf, räumen Müll von den | |
| Tischen und rütteln an den Schultern derer, die auf den Sofas eingenickt | |
| sind. „Los, steht auf! Macht euch nützlich! Sonst denken die Leute noch, | |
| ihr könnt euch nicht benehmen!“, ruft ein Mann um die 40 in die Runde und | |
| erntet Gekicher. | |
| Denn benehmen können sich die Mitglieder dieser Protestbewegung sehr wohl, | |
| das haben sie in der vergangenen Nacht immer wieder bewiesen. Vertrieben | |
| aus dem Park, in dem sie seit Wochen den friedlichen Widerstand organisiert | |
| haben, zusammengepfercht in einem von schwer bewaffneten Polizisten | |
| umzingelten Hotel, immer wieder attackiert von Reizgas und Wasserwerfern, | |
| haben sie meist die Ruhe bewahrt, haben sich gegenseitig geholfen und | |
| wieder aufgebaut. | |
| ## Die Aktivisten bewiesen Organisationstalent | |
| Sie haben geteilt, was sie bei sich hatten, und so viel Organisations- und | |
| Krisentalent bewiesen, dass die Nacht ohne allzu große Katastrophen zu Ende | |
| gehen konnte. Viele Plastikpatronen sind gestern Nacht durch die Luft | |
| geflogen. Die Demonstranten wussten genau, dass sie es auf eine Eskalation | |
| nicht ankommen lassen durften. Natürlich gab es etliche Verletzte, einige | |
| sind auch schwer verletzt, doch es hätte alles noch viel, viel schlimmer | |
| kommen können. | |
| Die lange Nacht im Divan-Hotel begann gegen halb zehn Uhr abends, kurz | |
| nachdem die Polizei den besetzten Gezi-Park gewaltsam geräumt und die | |
| Demonstranten rausgetrieben hatte. Eine knappe Stunde vorher herrschte noch | |
| Volksfeststimmung im Park, Tausende von Menschen, darunter viele Kinder und | |
| alte Menschen, feierten ausgelassen bei Livemusik. Dann kamen die | |
| Gasgranaten, Gummigeschosse und Wasserwerfer. | |
| Nun stehen Hunderte vor den Eingängen des Hotels, eingekesselt von der | |
| Polizei, fassungslos über das, was da im Park nebenan gerade passiert ist. | |
| „Wir hätten niemals gedacht“ sagt ein Student, „dass sie so früh am Abe… | |
| loslegen, während so viele schlecht ausgerüstete Menschen im Park sind!“ | |
| Besonders schlecht ausgerüstet für einen Reizgasangriff waren die vielen | |
| Kinder im Park. | |
| Im Notfalllazarett im Untergeschoss des Hotels wurden sie sofort notdürftig | |
| behandelt, jetzt tragen Helfer die vor Schmerzen und Schock schreienden | |
| Kleinen aus dem Hotel hinaus zu den herangefahrenen Krankenwagen – ein | |
| Anblick, bei dem einige der Anwesenden unter Tränen die Polizisten | |
| beschimpfen. „Wie wollt ihr das hier euren eigenen Kindern erklären? Wie | |
| wollt ihr ihnen ins Gesicht schauen?“, schreit ein Mann immer wieder. | |
| Immer mehr Leute strömen ins Hotel hinein, als die Polizisten das Hotel | |
| erneut mit Gaspatronen beschießen. Viele husten und ringen nach Atem, | |
| einige brüllen vor Schmerzen und werden von herbeieilenden Aktivisten mit | |
| Talcidlösung besprüht. „Nicht reiben! Nicht mit Wasser abspülen!“, ruft | |
| eine junge Frau allen zu. Sie lenkt die stark Betroffenen nach unten ins | |
| Lazarett. Sie schaut, wer Hilfe braucht, und ist wahnsinnig effizient bei | |
| alldem. „Das hab ich in den letzten 18 Tagen halt gelernt“, sagt sie | |
| ungerührt. | |
| ## „Da unten ist eine deutsche Abgeordnete“ | |
| Unter den Demonstranten, die im Hotel Zuflucht suchen, ist auch Claudia | |
| Roth. Sie war im Park, als dieser angegriffen wurde, erzählt sie, aufgelöst | |
| und sichtlich schockiert. „Das ist wie im Krieg hier, Krieg gegen die | |
| Menschen“, sagt sie, ein Satz, den sie vielen deutschen Journalisten im | |
| Laufe der Nacht in die Feder diktieren wird und der leider rein gar nicht | |
| übertrieben ist. Viele hier kennen sie: „Guck mal, da ist Claudia Roth“, | |
| sagt eine Frau, „dann berichten die deutschen Medien jetzt bestimmt ganz | |
| schnell.“ | |
| Vor dem Eingang des Hotels versuchen Sprecher der Protestbewegung die | |
| Polizisten von weiteren Attacken abzuhalten: „Da unten ist eine deutsche | |
| Abgeordnete!“, ruft einer von ihnen immer wieder, doch kurz danach schießt | |
| das Gas doch wieder ins Hotel hinein. Claudia Roth erwischt es unten im | |
| Hotellazarett, wo sich das Gas besonders stark breitmacht. Sie wird von den | |
| Ärzten versorgt und wenig später aus dem Hotel geleitet. | |
| Als auch alle Fotografen und Kameramänner das Hotel verlassen haben, werden | |
| die Angriffe heftiger. Die Polizei feuert mehrere Gaspatronen auf einmal | |
| ab, und auf einmal scheint das Atmen in der Lobby vollends unmöglich. | |
| Menschen stürmen in Richtung der verschlossenen Notausgänge am Ende des | |
| Ganges, fangen an zu schreien, zu drängeln, es wird immer enger und die | |
| Luft immer giftiger. | |
| Zum ersten Mal an diesem Abend ist plötzlich so etwas wie Massenpanik | |
| spürbar. „Sie wollen uns umbringen“, schreit eine Frau, eine andere, mit | |
| fehlendem Mundschutz, bleibt einfach auf der Treppe stehen, während die | |
| Menge sich an ihr vorbeidrückt. „Nicht drücken! Nicht rennen! Ganz | |
| entspannt nach oben laufen, da ist die Luft rein“, brüllt einer der | |
| Aktivisten immer wieder und verteilt auf dem Weg nach oben die Menschen auf | |
| den verschiedenen Etagen. | |
| Im sechsten Obergeschoss ist die Luft fast sauber, erschöpft setzen sich | |
| einige in den Gang, fangen an gemeinsam die Nachrichten über die Proteste | |
| im Rest des Landes zu checken. „Ach sieh an“, ruft plötzlich einer, | |
| „EU-Minister Egemen Bagis hat der Presse gesagt, dass alle, die sich heute | |
| Abend auf dem Taksim-Platz aufhalten, Terroristen sind. Damit kann er ja | |
| nur die Polizisten meinen, uns lassen sie ja nicht raus.“ | |
| ## Sie teilen Kekse, Vitamintabletten, Jacken | |
| Die nächsten Stunden über bleibt es ruhig. Jemand spielt auf dem Klavier in | |
| der Hotellobby, Helfer verteilen Kekse, Wasser und Milch. Im Lazarett | |
| verteilt eine Transvestitin Vitamintabletten und bittet um Zigaretten für | |
| diejenigen, die keine mehr haben: „Wer Zigaretten hat und die nicht teilt, | |
| ist ein Tayyip in meinen Augen“, flötet sie. Ständig bietet jemand seine | |
| Jacke, seinen Sitzplatz oder einen Keks und vor allem Aufmunterung an, es | |
| ist eine Atmosphäre voller Wärme und Zusammenhalt. | |
| Als im Hotel der morgendliche Großputz beginnt, kommt Dr. Eren, einer der | |
| freiwilligen Ärzte hier, auf eine Zigarettenpause nach draußen. „Seit 18 | |
| Tagen bin ich hier, sagt er, „ich bin aus Ankara angereist. Ich riskiere | |
| meinen Job und eine Anklage für meinen Einsatz hier, aber wenn ich diese | |
| jungen Leute sehe, dann weiß ich, dass er sich lohnt.“ | |
| 16 Jun 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Yasemin Ergin | |
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