Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Proteste in Belarus: Die Angst kehrt zurück
> Das brutale Vorgehen der Sicherheitskräfte zeigt in der Provinzstadt
> Grodno Wirkung. Eltern wird damit gedroht, ihnen die Kinder wegzunehmen.
Bild: Allgegenwärtig und meistens nicht friedlich: Polizeikräfte bei einer De…
Grodno taz | Juri hatte 14 Tage Urlaub genommen. Dann fuhr der Bautechniker
aus Smorgon an der litauischen Grenze zum Protest in seine belarussische
Geburtsstadt [1][Grodno]. Er wohnte bei seinem Bruder und ging Tag für Tag
auf den Leninplatz. Am Ende dieser seltsamen Ferien wurde er von der
Polizei festgehalten. „Sie lachten nur fies“, sagt Juri, der gerade nach 15
Tagen sogenannter Administrativhaft freigekommen ist.
Sein Bruder habe das Protokoll der Ermittlungsbehörden sofort
unterschrieben und sei mit einer Geldstrafe davongekommen, er selbst habe
seine Unterschrift verweigert, gibt der bärtige, tätowierte Mittdreißiger
zu Protokoll. Seine Gerichtsverhandlung habe 2 bis 3 Minuten gedauert.
„Zeugen gab es keine. Mein Vergehen: Teilnahme an einer nicht genehmigten
Demonstration“, erzählt Juri Prilaschkiewitsch. Im Gefängnis von Grodno
habe er dann in einer Viererzelle gesessen, mit zwei anderen Politischen
und einem Ladendieb.
„Sie haben uns normal behandelt, ich kann nicht klagen, ein paar
Gefängniswärter sprachen mich gar mit „Sie“ an, erzählt der Freigelassene
in einem typischen Altstadt-Innenhof. An der Hausecke steht ein
Pizza-Foodtruck, drei junge Frauen setzen sich mit je einem Latte-Macchiato
zum Schwatz auf eine nahe Bank.
## Der Knast kostet 70 Euro
Der Urlauber Juri kramt derweil eine Rechnung aus der Tasche. „Hier, 202,50
belarussische Rubel (umgerechnet knapp 70 Euro) kostet mich der Aufenthalt
im [2][Knast]. Die Zahlungsfrist ist 30 Tage.“ Dabei huscht fast ein
Lächeln über sein Gesicht.
Dünne Kartoffelsuppe, Buchweizengrütze, Reis, fast fleischfreie Koteletts
und abends jeweils Kohlsalat habe er gerade zwei Wochen lang gegessen, dies
sei die Rechnung dafür, die Zellenmatratze sei offenbar gratis, erzählt er.
„Siebenmal wurde ich zum Verhör geladen, immer und immer wieder die
gleichen Fragen: Was hast du auf der Demo genau gemacht? Wer war mit dir
auf der Demo? Wer bezahlt dafür? Wo wird das Geld ausbezahlt?“ Er habe zum
Glück genau gewusst, wie er sich verhalten müsse, berichtet
Prilaschkiewitsch. „In meiner Zelle konnten sie keinen brechen“, sagt er
stolz.
Das letzte Verhör vor der Freilassung habe besonders lange gedauert, auch
seien am Dienstag Beamte am Arbeitsplatz seiner Ehefrau aufgetaucht und
hätten sich ostentativ nach seinem Verbleib und dem Wohlergehen des kleinen
Sohnes erkundigt. Dies sei klar als Einschüchterung zu verstehen, sagt
Prilaschkiewitsch.
## Weiter auf die Straße
Für den, bei einer Privatfirma angestellten, Baufachmann ist klar, dass er
so schnell keinen neuen Urlaub beantragen kann, aber dennoch weiter
protestieren wird. „Mich schüchtern sie so schnell nicht ein, und auch
meine Frau nicht“, sagt er trotzig.
Doch in der als Hochburg des Widerstandes geltenden 370.000-Einwohnerstadt
im Nordwesten von Belarus haben die Festnahmen und Strafbefehle wegen
angeblichen Umsturzversuchs gegen die beiden Koordinationsratsmitglieder
Maria Kolesnikowa und Maxim Snak sowie das immer brutalere Vorgehen von
Nicht-Staatspräsident Alexander Lukaschenkos Schlägertruppen vor allem in
der Hauptstadt Minsk nun auch gegen Frauen ihre Spuren hinterlassen.
Erst am vergangenen Sonntag waren in Grodno ein Protestmarsch mit Tränengas
und Schlagstöcken verhindert sowie insgesamt 102 Demonstranten festgenommen
worden. Zur traditionellen Sonntagsdemonstration kamen in Grodno deutlich
weniger Bürger als noch vor zwei Wochen.
Irena ist Mutter von zwei kleinen Kindern und will ihren Familiennamen
nicht in der Zeitung lesen. Sie gehört zu jenen, die am vergangenen Sonntag
zu Hause geblieben sind. „Natürlich sollten wir alle weiterhin an den Demos
teilnehmen, doch ich habe einfach Angst um meine Familie“, sagt sie fast
entschuldigend. „Sie drohen damit, uns die Kinder wegzunehmen und in ein
Heim zu stecken, wenn wir weiter demonstrieren“, erzählt Irena.
## Angebliche Probleme in der Familie
Mehreren Familien in Grodno sei dies bereits passiert, das habe sie von
Nachbarn gehört, aber auch auf lokalen Onlineportalen gelesen. „Sie kommen
in die Schule und erzählen den Lehrern von angeblichen Problemen in der
Familie“, erzählt die knapp 40-Jährige. „Ich war bei den Frauenprotesten,
doch heute spüre ich vor allem meine Verantwortung meinen Kindern
gegenüber“, erklärt sie.
Dann geht sie zum schlimmsten Thema über, den Vermissten, die tot in
Wäldern aufgefunden würden, sowie den nach der Gewaltorgie vom 9. bis 12.
August immer noch spurlos Verschwundenen. Um sich etwas abzulenken, hat
sich Irena in medizinische Freiwilligenarbeit eingeklinkt. Am Stadtrand von
Grodno näht sie Schutzanzüge für Ärzte, die gerade gegen die hierzulande
beginnende zweite Coronawelle kämpfen.
Vor dem Virus hat sie keine Angst, vor Lukaschenkos Schergen hingegen
schon. „Ein wenig Hoffnung bleibt, dass alles noch gut ausgeht und der
Präsident abtritt, Die Chancen dafür liegen bei einem Prozent, würde ich
sagen.“
10 Sep 2020
## LINKS
[1] /Proteste-in-Grodno-in-Belarus/!5708260
[2] /AnarchistInnen-ueber-Belarus/!5708114
## AUTOREN
Paul Flückiger
## TAGS
Schwerpunkt Krisenherd Belarus
Protest
Belarus
Grodno
Kolumne Notizen aus Belarus
Lukaschenko
Kolumne Notizen aus Belarus
Schwerpunkt Krisenherd Belarus
Schwerpunkt Krisenherd Belarus
Schwerpunkt Krisenherd Belarus
Schwerpunkt Krisenherd Belarus
Belarus
## ARTIKEL ZUM THEMA
Anders grüßen in Belarus: „Passen Sie auf sich auf!“
Die Belarussen ändern Sprache und Verhalten. Janka Belarus erzählt von
stürmischen Zeiten in Minsk. Folge 3.
Proteste in Belarus: Wir sind stärker als diese Greise!
Hunderttausende fordern Lukaschenkos Rücktritt, auch unsere Autorin. Vom
brutalen Umgang mit Oppositionellen – und einem mächtigen Gegengift.
Staatssymbole in Belarus: Die „falsche“ Flagge
Das Weiß-Rot-Weiß der Opposition ist nicht erlaubt. Olga Deksnis erzählt
von stürmischen Zeiten in Minsk. Folge 2.
Proteste in Belarus: Einen nach der anderen
Mit der Festnahme des Anwalts Maxim Snak verliert die Opposition einen
ihrer letzten führenden Köpfe. Die Proteste dürften indes weitergehen.
AnarchistInnen über Belarus: „Ich hörte Schreie aus den Zellen“
Die beiden belarussischen AnarchistInnen Nastja und Alexej sind in die
Ukraine geflohen. In Minsk saßen sie nach einer Demo mehrere Tage im
Gefängnis.
Opposition in Belarus: Wo ist Maria Kolesnikowa?
Die belarussische Oppositionspolitikerin ist weiterhin nicht auffindbar.
Präsident Lukaschenko lehnt Gespräche mit dem Koordinierungsrat ab.
Proteste in Grodno in Belarus: Eine Stadt wehrt sich
In der als oppositionell geltenden Stadt Grodno gab es wieder viele
Festnahmen. Die Oppositionsführerin Maria Kolesnikowa indes gilt als
verschwunden.
Weitere Proteste in Belarus: Tausende Frauen gegen Lukaschenko
Vier Wochen nach der Wahl in Belarus halten die Proteste gegen den
umstrittenen Staatschef an. Wieder sind mehr als 40 Demonstrierende
festgenommen worden.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.