# taz.de -- ProSieben-Doku über Rechtsextremismus: Der Langzeiteffekt | |
> Die Doku „Rechts. Deutsch. Radikal“ konfrontiert Rechte mit Ruhe, hat | |
> aber Blindflecken: Sie spart die Frage der Perspektive aus und betrachtet | |
> nur. | |
Bild: Thilo Mischke hat 18 Monate für die ProSieben-Doku recherchiert | |
Wie sehr viele andere saß ich am Montagabend vor meinem Laptop und schaute | |
um 20.15 Uhr [1][eine Doku über Rechtsextreme auf ProSieben]. Diese | |
Tatsache an sich ist bemerkenswert. | |
Der private Fernsehsender kündigte kurzfristig eine Programmänderung an, | |
marketingtechnisch klug, besonders nachdem herauskam, dass es der ehemalige | |
AfD-Pressesprecher Christian Lüth ist, der im Film sagt, man könne | |
Migranten „nachher immer noch alle erschießen oder vergasen“. Die | |
Dokumentation „Rechts. Deutsch. Radikal“ sei „die wichtigste Dokumentation | |
der letzten Jahre auf ProSieben“, sagte Senderchef Daniel Rosemann über das | |
Stück, das werbefrei ausgestrahlt wurde. | |
18 Monate lang hat Reporter Thilo Mischke recherchiert. Er geht auf ein | |
Rechtsrockfestival, er geht zu Pegida, er fragt einen Nachwuchsnazi, wo der | |
sich in zehn Jahren sieht. Er konfrontiert, zeigt Entsetzen, bohrt nach. | |
Mischke bewegt sich mit einer bewundernswerten Ruhe durch Szenen voller | |
Wutbürger und gewaltbereiten Neonazis. Und im Grunde stellt er auch | |
wichtige Fragen. Schwer aushaltbar ist aber, wen er antworten lässt und wen | |
er gar nicht erst fragt – und dass nicht thematisiert wird, warum sich der | |
Reporter überhaupt erst in viele dieser Recherchesituationen begeben kann: | |
Weil er ein weißer Mann ist. | |
Die Reaktionen auf die Doku waren gemischt, ähnlich wie im Mai, als Joko | |
und Klaas zur Hauptsendezeit auf ProSieben den 15-minütigen Film | |
„Männerwelten“ über sexuelle Belästigung von Frauen zeigten. Grob | |
unterscheiden ließen sich damals wie jetzt drei Arten von Reaktionen: 1. | |
die „Danke, dass ihr diesem wichtigen Thema Platz einräumt“-Fraktion, 2. | |
die „Das bringt doch nichts“-Fraktion und als Drittes die „Sowohl als | |
auch“-Anhänger:innen. | |
## Egal ob privat oder öffentlich-rechtlich | |
Journalistisch sollten für Beiträge im Privatfernsehen und solche auf den | |
öffentlich-rechtlichen Kanälen keine großen Unterschiede gelten. Überall | |
finden sich Unterhaltung und Information in verschiedenen Formen und | |
Mischungen, überall werden Inhalte für eine Zielgruppe mit einer bestimmen | |
Perspektive aufbereitet. Aber gerade die Perspektivenfrage ist es, die sich | |
Medienschaffende häufiger stellen sollten. Denn sie erklärt den Missmut | |
vieler, die sich über diese Doku zu Rechtsradikalismus zur besten Sendezeit | |
nicht einfach freuen können – und gibt eine Antwort auf die Frage, wie | |
Berichterstattung über Missstände nachhaltig und nicht nur punktuell wirken | |
kann. | |
Populär ist, was bei der Masse bekannt und oft beliebt ist. Dazu gehört | |
auch, das Leiden anderer zu betrachten, egal ob „Dschungelcamp“ oder | |
Nachrichten. Es gibt die Leidenden, die Betrachtenden und die, die das Leid | |
für die Betrachtenden aufbereiten. Mit Rechtsextremismus funktioniert das | |
ähnlich. Da sind die, die leiden, unter der ständigen Präsenz von Nazis in | |
den Parlamenten, im Fernsehen, in Zeitungen. Und es gibt die, die das | |
Leiden betrachten. Die schockiert sind, irgendwann nur noch eingeübt | |
schockiert, und Zitate über [2][einen Vogelschiss der Geschichte] und | |
Migranten, die erschossen oder vergast werden könnten, auslagern aus ihrem | |
Alltag. | |
„Fotografien sind ein Mittel, etwas ‚real‘ (oder ‚realer‘) zu machen,… | |
die Privilegierten und diejenigen, die einfach nur in Sicherheit leben, | |
vielleicht lieber übersehen würden“, schreibt Susan Sontag über den Zweck | |
von Bildern in der Kriegsberichterstattung. Aber die Bedrohung von rechts | |
für die Masse realer machen, ohne die Masse selbst als Akteurin mitzudenken | |
– bringt das was? | |
Das Problem ist, dass „Rechts. Deutsch. Radikal“ sich an ein weißes | |
Durchschnittspublikum wendet, das noch zu oft glaubt, rechtes Gedankengut | |
habe nichts mit ihm selbst zu tun. Das Problem ist, dass diese Doku seinem | |
Publikum mehr Anregung bietet, die Abgründe anderer zu betrachten, als sich | |
selbst zu hinterfragen. | |
## Das Jahr der Krisen | |
[3][2020 ist das Jahr der Krisen], aber es ist eben auch das Jahr, in dem | |
es gelingen könnte, einen Blickwechsel auf diese Krisen zu normalisieren. | |
Nie zuvor drangen so viele Stimmen durch, die sich diverser besetzte | |
Redaktionen oder Talkshows wünschten. Dass wir noch nicht im Idealzustand | |
angekommen sind, ist klar. Dass es Aufklärung zum Thema Rechtsextremismus | |
und Rassismus braucht, steht außer Frage und auch, dass es dafür | |
unterschiedliche Mittel und Wege gibt. | |
Aber eine Doku über Rechtsextremismus, die sich als gesellschaftlich | |
wichtig und aufklärerisch vermarktet, muss sich auch an ihrem | |
Langzeiteffekt messen lassen. Und dieser hängt davon ab, ob sie der | |
drängendsten Erkenntnis der letzten Monate gerecht wird: dass die reine | |
Betrachtung rassistischen und antisemitischen Gedankenguts in Deutschland | |
eben nichts ändert. Und dass wir die Stimmen der Bedrohten brauchen, um | |
diesen Teil deutscher Geschichte und Gegenwart zu erzählen. Gerne auf allen | |
Kanälen und auch zur besten Sendezeit. | |
29 Sep 2020 | |
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## AUTOREN | |
Lin Hierse | |
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