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# taz.de -- Politisches Kunstprojekt: Eine neue Work-Life-Balance
> In Thessaloniki fragt das deutsch-griechische Kunstprojekt „Tempus
> Ritualis“ nach neuen Formen der Vergemeinschaftung in Zeiten der
> politischen Krise.
Bild: Nina Fischer & Maroan el Sani. Filmstill aus „Dynamis“, 2014.
Crisis. What Crisis? Wer in diesem Sommer nach Thessaloniki reist, fragt
sich, wo eigentlich die vielbeschworene griechische Krise ist. Der Hellenen
zweitgrößte Stadt boomt nicht nur wegen des Tourismus. Nobelboutiquen
säumen die Boulevards der nordgriechischen Stadt am Thermaischen Golf. Man
sollte nicht meinen, dass die Arbeitslosenrate hier bei 30 Prozent liegt.
So exzessiv wie die multikulturelle Metropole allabendlich die Rituale des
globalisierten Consumer-Lifestyle auslebt: shoppen, essen, flirten.
Auch in der kleinen Ausstellung im Hafen von Thessaloniki sieht man keine
Krise. Es sei denn, man hält die Bilder, die die Fotografin Lia Nalbantidou
in das „Warehouse B1“ gehängt hat, für deren Beweis. In ihrer Serie „Ur…
secret gardens“ hat die Künstlerin aus Thessaloniki Schlafstellen von
Obdachlosen, zum Treffpunkt umfunktionierte Baustellen oder Sitzecken in
Fußgängerzonen kurz vor Morgengrauen abgelichtet. Doch in dem
Backsteingebäude, eine Art PS1 des Staatsmuseums für Zeitgenössische Kunst,
geht es gerade nicht darum, die verdrängten Schattenseiten der Krise ins
sommerlich vernebelte Bewusstsein zu heben.
Die vom Institut für Auslandsbeziehungen (IfA) unterstützte Schau fragt
vielmehr, was aus ihr herausführen könnte. „Tempus Ritualis“ ist eines
jener kleinen Kunstprojekte, denen man oft mehr abgewinnen kann als
spektakulären Biennale-Manifestationen, weil sich mitteilt, dass ihre
Macherinnen ein echtes Anliegen treibt. 2009, auf dem Höhepunkt der
griechischen Staatskrise, das Feindbild Merkel grassierte, wollten die
berlin-thessalonikischen Künstlerinnen Christina Dimitriadis und Evanthia
Tsantila eine andere Form des deutsch-griechischen Dialogs initiieren –
einen mit ästhetischen Mitteln.
## Liebe, Tanzen, Party
Zusammen mit der Berliner Kuratorin Christine Nippe haben sie in nur zwei
Jahren und mit weniger als 50.000 Euro ein Kunstprojekt mit einem zunächst
altmodisch-gelehrsamen Titel auf die Beine gestellt. Sie luden zehn
Künstlerinnen ein, die griechische Realität vor Ort zu untersuchen. Doch
wenigstens einmal sollte es nicht um die – zum Medienklischee geronnene –
„griechische Krise“ gehen. Deswegen gaben sie die Stichworte „Zeit“ und
„Ritual“ vor.
Das Ergebnis ist eine kleine, aber fokussierte Schau. Die wieder einmal
demonstriert, dass die Kunst soziale Mechanismen sichtbar machen kann, die
tiefer reichen als alle Krisen. Auf Evanthia Tsantilas ins Malerische
retuschierten Fotografien „Miraculous Images“ schälen sich diffus
Menschenmengen aus dem dunklen Innenraum einer orthodoxen Kirche. In ihrem
Film „The Bathers“ beobachtet die griechische Filmemacherin Eva Stefani
Rentner bei Solidaritätsritualen: der abendlichen „Parlaments“-Sitzung auf
einem Campingplatz oder beim alljährlichen Schlammbad in einem Kurort.
„Liebe, Tanzen und Party ist alles, was ich will“, ruft eine beleibte
Seniorin und wirft kokett ihre Hände gen Himmel.
In ihrer Fotoserie mit dem bezeichnenden Titel „Metamorphosis is the only
Grace offered Greece“ hat Co-Kuratorin Christina Dimitriadis ein prägnantes
Bild für die gemischten Gefühle der Griechen derzeit gefunden. In einem
unverputzten Rohbau aus Beton sitzt ein Elternpaar mit seiner Tochter und
spielt mit Bauklötzen. Ihre ernsten Gesichter signalisieren, dass das
Spiel, das bislang die kulturellen Codes transportierte, nicht mehr so
einfach funktioniert. Trotzdem bauen sie den kleinen Turm vor sich auf.
Verzweiflung und Hoffnung liegen in Griechenland in diesen Tagen eng
beieinander.
Obwohl in Thessaloniki entstanden, funktionieren alle Arbeiten als
allgemeine Metaphern. Ob es der schwere Block in Christine Schulz’ Kurzfilm
„Delphic Raft“ ist, den Männer und Frauen sisyphosartig eine Treppe
hinaufwuchten. Oder ob es der nach vorne offene Horizont in den
rätselhaften Fotografien Pia Greschners ist. „Amazing things will happen“
hat sie eine Fotoserie und ein Video genannt, das die Strandpromenade
Thessalonikis zeigt. Gelegentlich joggt ein Stadtbewohner vorbei. Über ein
freistehendes Eisengitter geht der Blick auf das offene Meer.
Gleichsam in Reinkultur zeigt diese Metapher das Video „Dynamis“ des
Berliner Künstlerduos Nina Fischer und Maroan el Sani. Mühsam überredeten
sie Thessaloniker für ein dem japanischen Butoh-Tanztheater entlehntes
Experiment: Sie müssen ein rohes Ei auf einer glatten Unterlage zum Stehen
bringen. Über das Gesicht derjenigen, die den nervenzehrenden
Konzentrationsakt tatsächlich bewältigten, huschte dann ein Freudestrahlen,
das aus der Frühgeschichte der Evolution zu stammen schien.
So verbanden Fischer und el Sani die Erfahrung der perfekten ästhetischen
Form und eines individuellen Erfolgserlebnisses im Ritual des Spiels. Einen
Königsweg aus der Krise haben sie mit ihrer Arbeit natürlich nicht
gewiesen. Zumindest gelingt ihnen aber ein Sinnbild für die
gemeinschaftliche Produktion dessen, wonach in Zeiten des Umbruchs nicht
nur in Griechenland alle verzweifelt suchen: eine neue Work-Life-Balance.
22 Jul 2014
## AUTOREN
Ingo Arend
## TAGS
Politische Kunst
Griechenland
Krise
Ausstellung
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