# taz.de -- Ausstellung „Urformen“ in Metz: Die Schönheit des Propellers | |
> In der großartigen Schau „Urformen“ beschwört das Centre Pompidou in Me… | |
> die Suche nach der reinen Form. Nur ihr Unterton ist leicht konservativ. | |
Bild: Ist der Fisch eine Urform? Constantin Brancusi, „Le Poisson“, 1924. | |
Ein Mann sitzt an einem kleinen Gewässer. Er hat einen Stein ins Wasser | |
geworfen und sinnt still dem Schauspiel der zitternd sich ausbreitenden | |
Kreise auf der Wasseroberfläche nach. Gino de Dominicis’ Videoarbeit von | |
1970 trägt den wunderbaren Titel: „Tentativo di far formare dei quadrati | |
inveche che dei cerchi attorno ad un sasso che cade nell’agua“. Und sie | |
ließe sich als Beweis dafür nehmen, dass die Suche nach „Urformen“ nicht | |
nur akademische Selbstbefriedigung ist. Wer hat sich nicht schon mal am | |
Ufer eines Sees dem hypnotischen Bild hingegeben, bei dem eine subtile | |
Störung zur perfekten Form mutiert? | |
An de Dominicis’ gerade einmal zweiminütigem Film muss vorbei, wer | |
„Urformen – Formes Simples“, die neueste Schau des Metzer Centre Pompidou | |
betritt. 2010 eröffnet, hat sich die Dependance des Pariser Stammhauses in | |
der lothringischen Provinz schnell einen Ruf als experimentierfreudiges | |
Haus erworben. | |
Mit spektakulären Schauen zum Verhältnis von Kunst und Krieg in „1917“ od… | |
zur Geschichte der ästhetischen Vogelperspektive in „Der Blick von oben“ | |
löste es den interdisziplinären Anspruch des Centre ein. In seinem neuesten | |
Projekt lotet das Museum, dessen Dach an einen riesigen Champignon | |
erinnert, nun erneut einen faszinierenden Grenzbereich zwischen Kunst, | |
Wissenschaft, Technik und Design aus. | |
## Faszination an der einfachen Form | |
Jean de Loisy, Chefkurator am Pariser Palais de Tokyo, hat einen Parcours | |
aus 17 Kapiteln geformt, der die Faszination an der einfachen Form | |
nachgezeichnet, die sich an der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert Bahn | |
bricht. | |
250 Werke aus aller Welt hat er zusammengetragen, vor allem aber aus den | |
reichen Pariser Archiven gezogen: Inkunabeln der Kunstgeschichte wie | |
Frantisek Kupkas Gemälde „Abstraction“ von 1930, Max Bills Skulptur | |
„Unendliche Schleife“ von 1960 oder Wolfgang Tillmans Inkjet-Print | |
„Freischwimmer“ von 2012. Darauf formen sich die Schlieren des | |
fotografischen Entwicklungsprozesses zu einem abstrakten Muster reiner | |
Schönheit. | |
Zu seinen „Urformen“ – den Titel hat sich Loisy von dem Buch „Urformen … | |
Kunst“ des Fotografen Karl Blossfeldt geklaut – zählen nicht nur Symbole | |
wie der Kreis. Sondern auch der Mond, der Atem oder Kulturtechniken wie der | |
Schnitt. Deshalb steht in Metz Nam Jun Paiks Videoinstallation „Moon is the | |
first TV“ von 1965 neben einem winzigen, 24.000 Jahre alten Feuerkeil. | |
Dessen Kante ist in derselben, schwingenden Linie geschliffen wie die | |
Schlitze in Lucio Fontanas berühmten Leinwänden direkt neben ihm. | |
## Ein Raum poetischer Imagination | |
Mit solch überraschenden Kombinationen öffnet Loisy einen Raum poetischer | |
Imagination, der sein Projekt von systematischeren Versuchen unterscheidet, | |
die Kontinuität eines überzeitlichen Formenvokabulars zu beweisen: André | |
Malraux „Musée imaginaire“ etwa oder Aby Warburgs Bilderatlas „Mnemosyne… | |
Die Ausstellung ist üppig mit großer Kunst bestückt, relativiert sie aber | |
zugleich. Als Schlüsselszene dafür kann der Besuch Marcel Duchamps auf | |
einer Pariser Luftschau 1912 gelten. Vor einem Flugzeugpropeller blieb der | |
spätere Konzeptartist wie angewurzelt stehen und rief: „Das ist das Ende | |
der Malerei. Wer kann etwas Besseres machen als diese Propeller?“ Das Stück | |
des Ingenieurs Marcel Dassault – damals noch aus elegant geschwungenem Holz | |
– hängt in der Ausstellung. | |
Und fast möchte man meinen, eine Arbeit wie Constantin Brancusis | |
Bronzeskulptur „L’Oiseau dans l’espace“ von 1936, einem zur gebogenen L… | |
stilisierten Vogel, verdankt sich diesem Vorbild. Wie fasziniert die | |
Künstler von den Formen waren, die die Revolution der modernen | |
Naturwissenschaften mit sich brachte, demonstrierte Man Ray. Von 1934 bis | |
1936 lichtete der in einer Fotoserie die bizarre Welt dreidimensionaler | |
mathematischer Objekte ab, die er im Pariser Institut Henri-Poincaré | |
entdeckt hatte. | |
## Ist die Moderne eine Erfindung aus dem Geist der Physik? | |
Karl Blossfeld fotografiert seine sich entrollenden Farne. Spätestens da | |
fragt man sich: Ist die Moderne eine Erfindung aus dem Geist der Physik, | |
der Biologie und der Geometrie? | |
So großartig, so anregend Loisys Schau ist, durchzieht sie doch ein | |
konservativer Unterton: Mit seinem Satz von der „latenten Form in der noch | |
ungeordneten Materie“ suggeriert der Kurator die Existenz prä- oder | |
ahumaner ästhetischer Grundformen. Und läuft damit Gefahr, hinter das | |
rezeptionsästhetische Credo zurückzufallen, nach dem Kunst immer nur das | |
sein kann, was jeder Betrachter in ihr sieht. So etwas wie eine „Urform“ | |
gäbe es danach so wenig wie „die Landschaft“. Beides sind Produkte des | |
menschlichen Blicks. | |
Doch dann fällt einem der schwarze Kubus aus Stanley Kubricks Kultfilm | |
„2001 Odyssee im Weltraum“ ein. Mal steht das legendäre Objekt in einem | |
interstellaren Schlafzimmer, mal in der prähistorischen Wildnis, umtanzt | |
von Primaten – minimalistisch klar und rätselhaft. Der amerikanische | |
Künstler John McCracken hat es in seiner Arbeit „Wing“ von 1999 | |
nachempfunden. Zweieinhalb Meter hoch, einen halben Meter breit, lehnt das | |
schwarz lackierte Rechteck am Ende der Ausstellung an der Wand des White | |
Cube. Es spiegelt den Betrachter, der zugleich in die ewige Dunkelheit des | |
Universums zu blicken meint. Und wirkt wie ein Objekt, das auch dann noch | |
schön ist, wenn längst kein Mensch mehr existiert. | |
9 Jul 2014 | |
## AUTOREN | |
Ingo Arend | |
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