# taz.de -- Staatskritik und Kriminalistik in der Kunst: Ein Forum für die Welt | |
> Wie man die Kriminalistik gegen den Staat kehrt. Die Schau „Forensis“ und | |
> eine Konferenz unter anderem mit Baltasar Garzón im Haus der Kulturen der | |
> Welt. | |
Bild: Kriminalistisches Basiswerkzeug: Ruß und Pinsel zur Fingerabrucknahme. | |
Geschwärzte Glieder, zerschnittene Kuppen. Das Foto der Finger eines | |
unbekannten Mannes kommt dem landläufigen Verständnis des Wortes Forensik | |
noch am ehesten entgegen: „Spuren“, die Männer in weißen Kitteln am Tatort | |
sichern und im Labor analysieren. Der Mann, ein Flüchtling aus Afrika, hat | |
sich die Gliedmaßen allerdings eigenhändig entstellt. So kann ihn die | |
Eurodac, die Datenbank der Europäischen Union für Asylbewerber, nämlich | |
nicht mehr identifizieren. | |
Dass die „wissenschaftliche Untersuchung krimineller Handlungen“ kein | |
Monopol des Staates und damit eine Herrschaftstechnik bleiben muss, kann | |
man jetzt im Haus der Kulturen der Welt (HKW) nachverfolgen. Denn die | |
„Fingerprint“-Aufnahme stammt nicht aus einer amtlichen Datei. Sie ist | |
vielmehr ein Still aus Sylvain Georges konzeptuellem Dokumentarfilm „Qu’ils | |
reposent en révolte“ von 2010. Darin setzt der französische Filmemacher | |
Migranten in Calais ein Denkmal. | |
„Forensis“, das jüngste Ausstellungsprojekt des HKW, ist eine jener | |
spannenden Expeditionen in den Grenzbereich von Wissenschaft, Kunst und | |
Politik, die zu einem Markenzeichen des Hauses geworden sind, seit dort | |
Anselm Franke den Bereich Kunst verantwortet. Zusammen mit dem Londoner | |
Architekten Eyal Weizman hat er einen Parcours von 25 Beispielen | |
inszeniert, in denen diese Umkehrung der Perspektive deutlich wird: | |
Künstler, Filmemacher und Architekten der Londoner Gruppe „Forensic | |
Architecture“ untersuchen Menschenrechtsverletzungen, Umweltverbrechen und | |
Katastrophen. | |
Mit Forensik assoziiert man immer noch in erster Linie Gerichtsmedizin. | |
Dabei geht es längst nicht mehr um Leichen. Obwohl es seit den achtziger | |
Jahren von Chile bis Zypern eine Welle der Exhumierung von Kriegsopfern | |
gibt, mit denen die „schmutzigen Kriege“ diverser Militärregierungen | |
aufgearbeitet werden. Die kritische Forensik hat inzwischen eine ganz neue | |
Komplexität erreicht: So untersucht das Projekt „Living Death Camps“ | |
3-D-Bodenlasering die Geschichte der Todeslager Staro Sajmište und Omarska | |
im ehemaligen Jugoslawien. | |
## Keine Kunst im üblichen Sinne | |
Ob das Projekt „The Earth Scorched“ kartiert, wie die Regierung von General | |
Ríos Montt in Guatemala den Genozid des indigenen Ixil-Volkes mit | |
Siedlungs- und Landschaftszerstörungen komplettierte. Oder ob die | |
„forensische Ozeanografie“ des Projekts „Left-to-die-boat“ anhand amtli… | |
Überwachungsvideos und mithilfe von Meereskundler den Weg eines Schiffs mit | |
afrikanischen Flüchtlingen während des Libyen-Embargos 2011 über das | |
Mittelmeer rekonstruiert. | |
Kunst im üblichen Sinne wird in dieser großartigen Ausstellung nicht | |
geboten. Mit Serialität hat es nichts zu tun, wenn das palästinensische | |
Wohnungsbauministerium die von den israelischen Besatzern in Gaza | |
zerstörten Häuser mit Kennziffern markiert. Wenn einer der beiden | |
Kuratoren, Anselm Franke, davon spricht, dass die Ästhetik hier „das Reich | |
der symbolischen Repräsentation verlässt“, um „Dokumente zu generieren, d… | |
politische Konsequenzen“ haben, klingt das nach dem berüchtigten | |
Verständnis von politischer Kunst, mit dem die 8. Berlin-Biennale 2012 in | |
die Schlagzeilen geriet. | |
Es bezeichnet aber zunächst den Weg eines Kunstprojekts in die politische | |
Öffentlichkeit und zurück. „Forensic Architecture“ entstand am renommiert… | |
Londoner Goldsmith’s – dem Art College der University of London. Das | |
ästhetische Interesse an der Forensik führte die Beteiligten zur Politik. | |
So dienten die Ergebnisse des Projekts „Drone Strike“ zum geheimen | |
US-Drohnenkrieg im hermetisch abgeriegelten pakistanischen Stammesgebiet | |
Waziristan der UNO bereits als Beweismaterial. Nun werden diese Projekte | |
als Ausstellungsinstallation wieder in den Kunstkontext recycelt. Obwohl | |
sie im strengen Sinne keine Kunst sind. Alles in allem: ein kunst- und | |
wissenschaftsgeschichtliches Ereignis allerersten Ranges. | |
Der neuen Forensik geht es letztlich nicht mehr nur darum, „Fälle“ | |
aufzuklären. Sondern um eine universelle Strafgerichtsbarkeit, die die | |
Formen neuer Staatsgewalt ahnden kann. Für sie plädierten Luis Moreno | |
Ocampo, der ehemalige Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs in | |
Rom, der ehemalige spanische Richter Baltasar Garzón und der Berliner | |
Menschenrechtsanwalt Wolfgang Kaleck während eines Symposiums zur Eröffnung | |
der Ausstellung am vergangenen Wochenende. Nichts anderes meint nämlich ihr | |
Titel „Forensis“, der die lateinische Wortbedeutung von Forensik | |
vitalisiert – die Herstellung eines öffentlichen Forums. Ihr wird der ganze | |
Planet zum potenziellen Beweisstück. Genügend Fingerabdrücke hat Homo | |
sapiens darauf ja wirklich hinterlassen. | |
8 Apr 2014 | |
## AUTOREN | |
Ingo Arend | |
## TAGS | |
Kunst | |
Baltazar Garzón | |
Ausstellung | |
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