# taz.de -- Politischer Wandel in Großbritannien: Die neuen Shootingstars | |
> Der Elan von Premierminister Boris Johnson ist im vergangenen halben Jahr | |
> erlahmt. Großbritanniens Agenda bestimmen inzwischen zwei andere. | |
Bild: Shooting Star 1: Finanzminister Rishi Sunak | |
Sie sind eloquent im Auftreten, ohne zu überdrehen, und selbstsicher in der | |
Ausstrahlung, ohne aufzutrumpfen. Sie sind Großbritanniens Shootingstars | |
des Jahres 2020, und sie stehlen Premierminister Boris Johnson die Show. | |
Der eine: der neue Labour-Chef [1][Keir Starmer], Starjurist aus einfachen | |
Verhältnissen, ehemals Generalstaatsanwalt, Vertreter eines dynamischen | |
Londoner Innenstadtwahlkreises. Der andere: der neue Finanzminister | |
[2][Rishi Sunak], Finanzexperte mit Migrationshintergrund, ehemals | |
Hedgefonds-Manager, Vertreter eines ländlichen Wahlkreises in Yorkshire. | |
Starmer entscheidet jetzt über eine zentrale Frage der politischen Zukunft | |
Großbritanniens: ob die britische Linke nach Jahren der Selbstzerfleischung | |
wieder eine ernsthafte Alternative zu den Konservativen von Boris Johnson | |
darstellen kann. Sunaks Handeln entscheidet derweil über die | |
wirtschaftliche Zukunft des Landes nach den Erschütterungen durch die | |
Coronakrise. | |
Erst ein halbes Jahr ist es her, da schwebte Boris Johnson über den Wolken. | |
Die Parlamentswahl vom 12. Dezember 2019 brachte den größten [3][Wahlsieg | |
der Konservativen] seit 1987. Als der Premier eine Woche später die neue | |
Legislaturperiode eröffnete, versprach er „zehn goldene Jahre“. Er stand im | |
Zenit seiner Macht. | |
Ein halbes Jahr später ist aus Boris Johnson offenbar die Luft raus. Die | |
Entschlossenheit und der Optimismus von einst sind dem Eindruck von | |
Überforderung und Zögerlichkeit gewichen. Er wirkt von den Ereignissen | |
getrieben, statt sie zu gestalten, und die Zweifel an ihm wachsen. Vor | |
wenigen Tagen fragte in der einflussreichen [4][Tageszeitung Daily Mail der | |
Politkolumnist Stephen Glover], ein Veteran seiner Zunft: „Ist der | |
schlaffe, unschlüssige Boris, den wir jetzt zu sehen bekommen, lediglich | |
ein Pausenfüller, an dessen Stelle alsbald der dynamische Führer tritt, den | |
die Leute gewählt haben? Oder erleben wir jetzt den wahren Boris Johnson?“ | |
Zwischen Dezember 2019 und Juni 2020 liegen nicht nur sechs turbulente | |
Monate. In der Karwoche im April lag Boris Johnson [5][mit einer schweren | |
Covid-19-Erkrankung] auf der Intensivstation, er kämpfte ums Überleben. Der | |
bis dahin kerngesunde Politiker, der am 19. Juni seinen 56. Geburtstag | |
gefeiert hat, ist seitdem ein anderer Mensch: leiser, zurückhaltender, aber | |
auch ängstlicher, weniger belastbar. | |
Das passt nicht mehr zu dem auf seine Person und seine Agenda zugespitzten | |
Regierungsstil, den sich Boris Johnson zulegte, als er im Juli 2019 | |
Premierminister wurde. In einer Art permanentem Ausnahmezustand wurstelte | |
er sich viereinhalb Monate durch, ohne Parlamentsmehrheit, am Rande der | |
Verfassungskrise. Der Brexit-Deal mit der EU entstand quasi nebenbei. Im | |
Wahlkampf im Dezember kämpften alle politische Kräfte um ihr Überleben. | |
Als er das geschafft hatte, kümmerte sich Boris Johnson zunächst vor allem | |
um sein Privatleben: Urlaub in der Karibik, die Scheidung von der Ehefrau, | |
die Schwängerung der Lebensgefährtin. Der hyperaktive Dauerkämpfer ließ | |
endlich die Dinge treiben. Der EU-Austritt am 31. Januar war eine Formalie. | |
Nicht einmal die Überschwemmungen weiter Landesteile im Februar brachten | |
ihn aus der Ruhe. Der Laden lief auch ohne ihn, geführt von Chefberater | |
Dominic Cummings, dem irren Brexit-Politgenie mit Narrenfreiheit im | |
Maschinenraum der Macht. | |
## Gute Umfragewerte trotz späten Lockdowns | |
Im Streit mit Cummings zog sogar Finanzminister Sajid Javid den Kürzeren | |
und trat zurück. All das waren Warnsignale, aber Johnson beachtete sie | |
nicht. Er beobachtete mit Genugtuung, wie der neue Finanzminister Rishi | |
Sunak im März mit Wucht die Agenda prägte, mit einem Staatshaushalt, dessen | |
600-Milliarden-Pfund-Investitionsprogramm die Labour-Partei sprachlos | |
machte, und endlich eine konkrete Idee erkennen ließ, wie die | |
Generalüberholung Großbritanniens [6][nach dem Brexit] aussehen soll. | |
Als Mitte März das Coronavirus zuschlug und Großbritannien eine kritische | |
Woche zu spät den „Lockdown“ verfügte, war Johnson also schon in den | |
Hintergrund getreten. Seiner Beliebtheit tat das keinen Abbruch, im | |
Gegenteil: Zum Höhepunkt der Coronakrise stiegen die Umfragewerte der | |
Konservativen auf weit über 50 Prozent. Der Eindruck war: Alle sitzen im | |
gleichen Boot. Die Wahl eines neuen Labour-Chefs durch die Parteibasis | |
Anfang April blieb eine Fußnote des politischen Geschehens. | |
Ausgerechnet Johnsons rechte Hand sorgte dafür, dass sich das änderte. Als | |
sich nämlich im April Dominic Cummings’ Ehefrau Mary Wakefield, eine | |
angesehene Journalistin, mit dem Coronavirus infizierte, steckte er aus | |
Angst um sein kleines Kind die Familie ins Auto und fuhr zu seinen Eltern | |
in den Nordosten Englands zwecks Isolation in einer separaten Wohnung. | |
Eigentlich ließen die Lockdownregeln das nicht zu. Als die Presse es einen | |
Monat danach aufdeckte, brach ein Shitstorm los. Johnson hielt zu seinem | |
Chefberater – und seine Umfragewerte stürzten abrupt ab und haben sich | |
nicht erholt. | |
Denn entweder galten die Lockdownregeln für alle außer Cummings – oder alle | |
außer Cummings haben sie missverstanden, als sie „Stay Home“ für eine | |
Anweisung hielten, zu Hause zu bleiben. Kein Wunder, dass die Regierung | |
seither erheblich an Autorität verloren hat, [7][zumal ihre Coronastrategie | |
nicht verhinderte, dass Großbritannien die meisten Covid-19-Toten in Europa | |
zählt], mehr als 42.000 aktuell nach der laufenden amtlichen Zählung. | |
## Untersuchungskommission zu Corona-Toten | |
Woran das liegt, wird eine zukünftige Untersuchungskommissionen | |
beschäftigen. Erste Erkenntnisse bestätigen, dass es sich vor allem um | |
einen Ausdruck des dramatischen Pflegenotstands und des schlechten | |
gesundheitlichen Allgemeinzustands der älteren Generation handelt: Rund 90 | |
Prozent der Covid-19-Toten waren nach einer Analyse des Statistikamtes ONS | |
über 65 Jahre alt, rund 40 Prozent sogar älter als 85. | |
Die Frage: „Wie um alles in der Welt kam es dazu?“, [8][mit der Labours | |
neuer Chef Keir Starmer seine erste parlamentarische Befragung des | |
Premierministers am 6. Mai einleitete], ist historisch geworden. Wochenlang | |
zerlegte Starmer danach jeden Mittwoch in einem halb leeren Unterhaus | |
Johnsons Coronastrategie und gewann an Profil – während die Cummings-Affäre | |
das Profil der Regierung zerschlug. | |
Der rasche Aufstieg Labours in den Umfragen und der ebenso rasche Rückgang | |
der Werte der Konservativen datiert aus just jenen paar Wochen im Mai. Der | |
25-Punkte-Vorsprung der Konservativen schrumpfte plötzlich auf 5 | |
Prozentpunkte, und dabei ist es seitdem geblieben: 43 zu 38 Prozent im | |
Durchschnitt der Umfragen der vergangenen Woche. | |
Großbritannien hat nun wieder eine funktionierende parlamentarische | |
Opposition. Mehr aber auch nicht. Starmer äußert lieber Kritik als eigene | |
Überzeugungen. Als Jeremy Corbyns Brexit-Schattenminister verantwortete er | |
Labours desaströse Brexit-Politik, wonach eine Labour-Regierung ein neues | |
Austrittsabkommen mit der EU aushandeln, es dem Volk zur Abstimmung | |
vorlegen und es dann aber nicht zur Annahme empfehlen werde. | |
## Nur Finanzminister Rishi Sunak wird wenig kritisiert | |
Diese Woche geriet Starmer im Parlament in die Defensive, als er nicht | |
sagen konnte, ob er für oder gegen eine Wiederöffnung der Schulen ist – | |
Regierung und Kinderärzte wollen sie, Lehrergewerkschaften lehnen sie ab. | |
In den aktuellen Rassismusdebatten vermochte es Starmer nicht, die | |
ultrarechten Demonstranten in London als Rassisten zu verurteilen, wie | |
Johnson es tat. | |
Der Einzige, dessen Krisenmanagement fast außer Kritik steht, ist | |
Finanzminister Rishi Sunak. Sein ambitionierter Haushaltsplan vom März | |
wurde in Windeseile Makulatur, aber seine Maßnahmen zur Bewältigung der | |
Coronakrise danach kamen schnell und waren effektiv: Kurzarbeitergeld von | |
bis zu 80 Prozent des letzten Verdienstes bis Oktober, wovon mittlerweile 8 | |
Millionen Arbeitnehmer profitieren; eine Ausweitung auf Selbstständige; | |
zahlreiche steuerliche Überbrückungsmaßnahmen für den Mittelstand. Wenn es | |
nach drei Monaten Stillstand überhaupt noch eine Wirtschaft zum Hochfahren | |
gibt, ist es „Rishi“ zu verdanken. | |
Wettbüros handeln den 40-Jährigen schon als den nächsten Premierminister. | |
Rishi Sunak hat im Auftritt die Souveränität bewahrt, die Boris Johnson | |
eingebüßt hat; er verkörpert in seiner Person das „Global Britain“, an d… | |
Johnson nur appellieren kann. Und er kümmert sich um die neue Generation | |
konservativer Abgeordneter, die 2019 als Vertreter ehemals sicherer | |
Labour-Sitze in Nord- und Mittelengland ins Parlament einzogen. Diese „Red | |
Wall Tories“ sicherten Boris Johnson den Wahlsieg – und fühlen sich seitdem | |
von ihm ignoriert, während der Finanzminister auf ihre Nöte eingeht und der | |
Labour-Chef manche ihrer Bedenken ausspricht. | |
Die Gleichzeitigkeit des Aufstiegs von Rishi Sunak und Keir Starmer ist ein | |
Zufall von erheblicher Sprengkraft. Mehrfach schon hat die Drohung der „Red | |
Wall Tories“, im Parlament die Gefolgschaft zu verweigern, die Regierung zu | |
Kehrtwenden in Richtung einer sozialeren Politik bewogen. Möglicherweise | |
stehen sich Sunak und Starmer bei den nächsten Wahlen als Rivalen um die | |
Macht gegenüber. Die stehen zwar erst 2024 an. Aber jetzt schon bereiten | |
die beiden eine Zeit vor, in der Großbritannien auf Boris Johnson | |
verzichten kann. | |
20 Jun 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Labour-Partei-in-Grossbritannien/!5652380 | |
[2] /Gross-Britannien/!5660075 | |
[3] /Wahlen-in-Grossbritannien/!5646763 | |
[4] https://www.dailymail.co.uk/debate/article-8424565/Yes-hes-tough-time-Boris… | |
[5] /Britischer-Premier-auf-Intensivstation/!5674688 | |
[6] /Videogipfel-zum-Brexit/!5692892 | |
[7] /Abrechnung-mit-Grossbritannien/!5688556 | |
[8] /Labourchef-Starmer-in-Grossbritannien/!5683161 | |
## AUTOREN | |
Dominic Johnson | |
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