# taz.de -- Revolution an britischen Schulen: Noten sind egal | |
> Mit einem überkomplexen Verfahren zur Vergabe von Abiturnoten mangels | |
> Abschlussprüfungen handelt sich Großbritanniens Regierung massive Kritik | |
> ein. | |
Bild: Schüler der „6ths Grade“ debattieren, Hemel Hempstead, Großbritanni… | |
London taz | Wie [1][in vielen Ländern der Welt] entfielen in | |
Großbritannien dieses Jahr die Abiturprüfungen wegen Corona. Doch erst | |
Anfang vergangener Woche entschied Bildungsminister Gavin Williamson | |
endgültig, wie die britischen „A-Levels“ dieses Jahr benotet werden | |
sollten. Und das Ergebnis lässt nun vor allem ihn selbst schlecht aussehen. | |
Zunächst sollten die Lehrer*innen für jede/n Schüler*in Endresultate | |
prognostizieren. Doch angeblich nur zwei Tage bevor am Donnerstag die | |
Ergebnisse bekannt werden sollten, zog Williamson die Notbremse und ordnete | |
eine Neuberechnung an. Grund war die Annahme, dass Lehrer*innen die | |
prophezeiten Leistungen ihrer Schüler*innen zu hoch oder zu niedrig | |
eingeschätzt haben könnten. | |
Das Resultat war, dass die Examensbehörde Ofqual die Noten von 39 Prozent | |
aller A-Level-Absolvent*innen mit einem Algorithmus herunterschraubte. | |
Eine Schule, die in den letzten Jahren immer eine Person mit der | |
schlechtesten Note aufgewiesen hatte, musste demnach auch dieses Jahr eine | |
Person mit der schlechtesten Note haben. Umgekehrt: wenn bislang nur eine | |
Person die Bestnote hatte, forderte der Algorithmus genau das auch in | |
diesem Jahr. | |
Nach lauten Protesten am Donnerstag versicherte Williamson, Schüler*innen | |
hätten eine dreifache Chance, Noten zu beanstanden. Dazu gehören das Recht | |
auf einen gebührenfreien Einspruch, die Möglichkeit der Verwendung der | |
Noten von Probeexamen – oder eine echte Abiturprüfung im November. Am | |
Samstag gab [2][Ofqual] Richtlinien zur Bewertung von Probeexamen bekannt. | |
Stunden später wurden sie jedoch wieder entfernt. Sie werden überprüft, | |
hieß es in einer Erklärung. | |
## [3][Panic] at the schools of England | |
Die Panik unter Schüler*innen und ihren Familien im ganzen Land ist groß. | |
Denn in Großbritannien werden Studienplätze meist schon vor der | |
Abiturprüfung vergeben – als vom Abiturergebnis abhängige Angebote. Viele | |
Schüler*innen, die sich aufgrund ihrer vorhergesagten Noten Hoffnungen | |
machten, fühlen sich jetzt um ihre Zukunft betrogen, wenn ihre Schule | |
insgesamt im Algorithmus als [4][zu schlecht bewertet] wird und sie daher | |
die benötigten Noten nicht erreichen. | |
Ein Beispiel: Ridwan Nur, der in Londons ärmstem Bezirk Tower Hamlets zur | |
Schule ging. Statt der vorausgesagten Einser und Zweier bekam der | |
18-Jährige eine Fünf und zwei Sechser, obwohl er, wie er sagte, im | |
Unterricht nie so schlechte Noten hatte. Da sein Studienplatz an der | |
University of London auf dem Spiel steht, hat sein Vater eine rechtliche | |
Prüfung der Bewertung der Noten angemeldet. Auch andere Betroffene haben | |
Verfahren eingeleitet. | |
Viele Universitäten begegnen dem von der Regierung geschaffenen Chaos mit | |
Nachsicht. Zwar haben einige Universitäten bereits angekündigt, dass es | |
ihnen schwerfallen könnte, Studienangebote noch lange offen zu halten, doch | |
die meisten Hochschulen schauen ihren akademischen Anwärter*innen jetzt | |
nicht mehr genau ins Schulzeugnis. | |
An der Universität Oxford erklärten das Worcester College und das Wadham | |
College, dass alle vorläufigen Angebote von Studienplätzen einfach weiter | |
gelten, ohne Rücksicht auf die letztendlichen Noten. So etwas gab es in | |
Oxford noch nie. Schottland hat bereits im Alleingang den Rückzieher | |
gemacht, den viele jetzt landesweit fordern: die von Lehrer*innen | |
vorhergesagten Noten voll und ganz gelten zu lassen. | |
Bemängelt wird, dass die algorithmisch geschaffenen Endergebnisse | |
offensichtlich Schüler*innen aus kleinen unabhängigen Privatschulen mit | |
historisch guten Abiturergebnissen gegenüber großen staatlichen Schulen | |
bevorzugen. Im Vergleich zu 2019, als noch reale Examen geschrieben wurden, | |
haben sich Ergebnisse von Privatschüler*innen tatsächlich stärker | |
verbessert als bei anderen Schüler*innen. | |
Doch dieser mögliche Vorteil erscheint bei der Immatrikulation nicht so | |
gravierend. Die Zahl der Universitätsstudent*innen aus ärmeren | |
Verhältnissen ist nämlich wie in den Vorjahren weiter angestiegen. So | |
kommen am Worcester College in Oxford nun 83 Prozent aller neuen | |
Student*innen aus staatlichen Schulen. Probleme haben nun hauptsächlich | |
nicht so begehrte Universitäten. | |
Die Tatsache, dass sich für diesen Herbst 4.000 Student*innen weniger aus | |
der EU in Großbritannien angemeldet haben, hilft britischen Student*innen | |
ebenfalls – für sie bleiben mehr Plätze übrig. Insgesamt immatrikulieren | |
sich dieses Jahr voraussichtlich 210.000 britische Student*innen – ein | |
Rekord. Und trotz des Algorithmus gab es noch nie so viele Schüler*innen | |
mit Bestnoten. | |
16 Aug 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Die-steile-These/!5703228 | |
[2] https://www.gov.uk/government/organisations/ofqual/about | |
[3] https://youtu.be/wMykYSQaG_c | |
[4] https://www.theguardian.com/education/2020/aug/15/controversial-exams-algor… | |
## AUTOREN | |
Daniel Zylbersztajn | |
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