# taz.de -- Politische Gefangene in Belarus: Suizidversuch im Gericht | |
> Der unschuldig verurteilte Aktivist Stepan Latypow wollte sich im Gericht | |
> das Leben nehmen. Janka Belarus über Minsk in stürmischen Zeiten. Folge | |
> 90. | |
Bild: Stepan Latypow im August 2020. Ihm drohen zehn Jahre Haft | |
Am 10. Juni wurde der Prozess gegen Stepan Latypow wieder aufgenommen. Den | |
journalistischen Berichterstatter*innen wurde das Fotografieren im | |
Gerichtsgebäude untersagt. Der politische Gefangene saß in einem gläsernen | |
Käfig und war beidhändig mit Handschellen an zwei Begleiter mit | |
kugelsicheren Westen gekettet. Um die 15 Menschen wurden in den | |
Gerichtssaal gelassen, die Mehrheit derer, die zu Stepans Unterstützung | |
gekommen waren, wurde wegen der „ungünstigen epidemiologischen Situation“ | |
nicht zugelassen. | |
Bei der vorherigen Anhörung am 1. Juni hatte Stepan Latypow einen | |
öffentlichen Suizidversuch unternommen. Er hatte sich auf die Bank in dem | |
Käfig gestellt (in dem die Gefangenen vor Gericht sitzen müssen, Anm. d. | |
Redaktion), um für die Begleiter schwerer erreichbar zu sein, und sich | |
einen Stift in den Hals gestochen. Danach war er gefallen und hatte noch | |
begonnen, sich die Arme aufzuschneiden. Der Käfig konnte nicht schnell | |
geöffnet werden, weil die Begleiter keinen Schlüssel hatten. Den hatte | |
jemand, der draußen vor der Tür des Gerichtssaales wartete. Als der Käfig | |
schließlich geöffnet wurde, verlor Stepan das Bewusstsein. Er wurde in ein | |
Krankenhaus gebraucht, kam dann aber gleich nach der Operation wieder in | |
Untersuchungshaft. | |
Stepan Latypow ist der 40-jährige Mann, der sich [1][schützend vor die | |
Wandbilder am „Platz der Veränderungen“ gestellt hatte]. Er wurde | |
festgenommen und noch in seinem eigenen Hof zusammengeschlagen, einzig und | |
allein aus dem Grund, w[2][eil er die maskierten Unbekannten höflich | |
gebeten hatte, sich auszuweisen] und ihnen Auszüge aus dem Gesetz über die | |
Organe des Innenministeriums vorgelesen hatte. | |
Er wurde zu Symbol der Ruhe, der Zuversicht und des Stolzes jener Tage. | |
Stepan ist von Beruf Arborist – ein Arzt für Bäume. Er wurde wegen der | |
Vorbereitung von Massenunruhen angeklagt, bei ihm zu Hause hatte man | |
handelsübliche Düngemittel aus einem Baumarkt gefunden. Acht Monate saß er | |
im Gefängnis, wo er gefoltert wurde, damit er die absurden Beschuldigungen | |
zugeben sollte, und als er sich weigerte, drohten sie ihm, auch gegen seine | |
Verwandten und Nachbarn Strafverfahren einzuleiten. | |
Stepans Vater erzählte, dass sein Sohn seit April in eine Zelle zusammen | |
mit psychisch Kranken gesperrt worden war. Man kann ihm absolut nichts | |
vorwerfen. Aber sie behandeln ihn wie ein wildes und gefährliches Tier. Wie | |
sehr muss man einen Menschen schikaniert haben, dass er den Tod dem | |
Gefängnis in Belarus vorzieht…. | |
Und immer noch sitzen minderjährige politische Gefangene hinter Gittern, | |
Kinder, die man dort schlägt und foltert, weil sie es gewagt haben, ein | |
anderes Leben zu wollen. Weil sie nicht einverstanden waren mit den Wahlen | |
2020. Und weil sie denjenigen, die sie erniedrigen und misshandeln, gesagt | |
haben, dass man anders leben kann. | |
Die junge Frau, die bei Latypows erster Gerichtsverhandlung dabei war, | |
erzählt: „Vor dem Hintergrund von Machtlosigkeit und eigener Ohnmacht, | |
allgemeiner Verwirrung, Gewalt und Bedrohung ist der von Stepan gemachte | |
Schritt nicht nur ein Schritt der Verzweiflung, sondern auch einer des | |
freien Willens.“ | |
Die Gerichtsverhandlung am 10. Juni dauerte keine Stunde. Das Gericht | |
schickte Stepan Latypow zu einer psychiatrischen Untersuchung. Ich möchte | |
mir nicht vorstellen, dass dies eine Wiederbelebung der Strafpsychiatrie | |
ist, bei der man die Menschen zwingt, Medikamente zu nehmen und sie in den | |
Zustand von „Gemüse“ versetzt. (ein umgangssprachlicher gebrauchter | |
Ausdruck für den neurospychologischen Ausdruck „vegetativer Zustand“, bei | |
dem noch die physiologischen Grundfunktionen eines Menschen erhalten sind, | |
aber alle Anzeichen subjektiven Bewusstseins fehlen, kein Sprachverständnis | |
und keine absichtlichen Handlungen mehr erkennbar sind; Anm. d. Redaktion) | |
Latypow selbst hat gesagt, dass alle seine Handlungen mit dem Verhalten der | |
Milizionäre zusammenhingen, und nicht mit seiner eigenen | |
„Unzulänglichkeit“. | |
Stepan Latypow drohen 10 Jahre Freiheitsentzug. Er selbst bekennt sich nach | |
keinem der Artikel, nach denen er angeklagt ist, für schuldig. | |
Aus dem Russischen [3][Gaby Coldewey] | |
16 Jun 2021 | |
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weiter, obwohl es kaum mehr auszuhalten ist. |