| # taz.de -- Patti Smiths kleine Erzählung: Berührungen auf dünnem Eis | |
| > „Hingabe“ heißt Patti Smiths neues Buch. Es ist eine Geschichte über | |
| > Leidenschaft und die Dinge, die uns an unserer Selbstverwirklichung | |
| > hindern. | |
| Bild: Liebt das Pathos, Patti Smith | |
| Pathos ist schon lange nicht mehr en vogue. Umso seltsamer, wenn dem Leser | |
| das geballte literarische Pathos einer Ikone, einer Heldin eigentlich, | |
| entgegenschlägt. Das tut es nämlich in „Hingabe“, Patti Smiths neuem Buch, | |
| ihrem ersten fiktionalen. Schon das Wort Hingabe ist ein Reizwort, wann | |
| hätten wir denn, zwischen endlosem Smartphone-Gestreichel und semisüchtigem | |
| Serien-Binge-Watching, das letzte Mal etwas wirklich hingebungsvoll getan? | |
| Smiths Heldin Eugenia ist Eistänzerin, der Tanz auf dem Eis wird ihr in | |
| jedem Frühjahr zur Mutprobe. Wenn das Eis ganz dünn wird und unter ihren | |
| zarten Füßen zu brechen droht, stellt sich ihr immer wieder aufs Neue die | |
| Frage: Weitermachen, auch wenn es das Ende bedeuten könnte? „Hingabe“ ist | |
| eine rätselhafte Erzählung über Passion und die Dinge, die uns daran | |
| hindern, uns selbst zu verwirklichen. | |
| Eugenia wird in Estland geboren; ihre Eltern schicken sie mit ihrer Tante | |
| und deren reichem Liebhaber in die Schweiz, um dem Naziterror zu entkommen. | |
| Am zugefrorenen Teich taucht plötzlich ein Mann auf, einer, der Eugenias | |
| Sehnsucht nach dem Berührtwerden zu erfüllen scheint. Sie wird ihm zur | |
| formbaren Hülle, er benennt sie um in Philadelphia, umgibt sie jedoch nicht | |
| nur mit brüderlicher Liebe. Allzu viel vom Plot dieser kleinen Erzählung | |
| darf nicht enthüllt werden, um die verrätselten Motive nicht frühzeitig zu | |
| entzaubern. | |
| Nur so viel zum Stil: Tonfall und Sprache, reich an Pathos und | |
| Ausschmückung, kennen Smiths Leser auch aus ihren nicht-fiktionalen Texten. | |
| Die kleine Erzählung selbst erhält eine Rahmung, gewissermaßen Vor- und | |
| Abspann, in denen den Lesern die zentralen Motive der Erzählung begegnen: | |
| Smiths Kindheitsbegegnung mit Eiskunstläuferinnen vor dem heimischen | |
| Fernseher und die Rührung, die sie dabei empfindet. | |
| Oder Simone Weil, die Frau, die mit Hingabe bis zum Tode ihre | |
| philosophisch-humanistische Mission verfolgte. Oder die Begegnung mit dem | |
| Manuskript von Albert Camus’ „Der erste Mensch“, in der der Autor seinen | |
| Helden als Spiegel für die Erlebnisse der eigenen Kindheitsjahre benutzt. | |
| ## Wie eine Gebrauchsanweisung | |
| All diese Rahmungen sind wie ein Schlüssel, den die Autorin selbst fürs | |
| Verständnis ihres Textes liefert. Wie eine Gebrauchsanweisung liest sich | |
| das, nicht für den Text vielleicht, aber für das Verstehen des | |
| Schreibprozesses: Woher stammen die Motive, die ein Autor verarbeitet? Und | |
| warum werden sie in dieser, nicht in jener Form in den Text eingearbeitet? | |
| Auf dieser Ebene ist „Hingabe“ enorm spannend, weil es die häufig gestellte | |
| Leserfrage „Wie kommen Sie auf ihre Stoffe?“ beantwortet: Sie drängen sich | |
| auf, Faden um Faden fügt sich, bis zum Schluss ein fertiges Textgewebe | |
| daliegt. Wer oder was mitgewebt hat, ist auch dem Autor am Ende nie so ganz | |
| klar. | |
| Die Erzählung selbst liest sich streckenweise wie die Inhaltsangabe eines | |
| noch zu schreibenden Romans: Sie behauptet und vermerkt, bisweilen fehlen | |
| die Mittel zu zeigen. Für einen Roman, den der Stoff durchaus hätte | |
| hergeben können, mag Smith, die am liebsten bei schwarzem Kaffee in ihrem | |
| Lieblingscafé schreibt, der lange Atem gefehlt haben. | |
| Wie überhaupt Lebens- und Schreibweise einander bedingen: Smith ist eine | |
| Lesereisende. Bücher begleiten ihre Flugreisen, und zu ihren liebsten | |
| Erkundungsorten auf fremdem Boden gehören Friedhöfe, auf denen die eigenen | |
| literarischen Helden begraben sind. In „Hingabe“ findet sie auf beinahe | |
| magische Art zum vernachlässigten Grab Simone Weils, es ist die Geschichte | |
| einer Epiphanie. | |
| Ein guter Freund, dem ich vor einigen Jahren Smiths Erinnerungsbuch „M | |
| Train“ zum Lesen empfahl, ertrug die Prätention des Pathos nicht. | |
| Eingefleischten Smith-Fans begegnet dies ohnehin allenthalben in ihren | |
| Songtexten oder ihren wirklich schönen, die Social-Media-Logik sprengenden | |
| Instagram Posts, die stets mit denselben Worten beginnen: „This is …“ | |
| Das ist Patti Smith, das ist ihre neue Erzählung, das ist eine Ikone, das | |
| ist Hingabe ans Schreiben und eine wunderbar altmodische Art, Literatur, | |
| und die Verzauberung, die sie bewirkt, zu beschreiben. | |
| 14 Jun 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Marlen Hobrack | |
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