| # taz.de -- Pädophilie im Zeichen von Emanzipation: Von Knaben und Sündenböc… | |
| > Die Ausstellung „Aufarbeiten“ im Schwulen Museum setzt sich kritisch mit | |
| > der Offenheit der Homosexuellenbewegung für sexuelle Gewalt an Kindern | |
| > auseinander. | |
| Bild: Will keine Täterbilder reproduzieren: die „Aufarbeiten“-Schau im Sch… | |
| Zuallererst: Es ist dem Schwulen Museum Berlin (SMB) hoch anzurechnen, dass | |
| es diese Ausstellung macht. „Aufarbeiten“ heißt die Schau, die sich mit den | |
| Schattenseiten der Bewegung auseinandersetzt, genauer gesagt mit | |
| sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche „im Zeichen von | |
| Emanzipation“. Das ist mutig in Zeiten, in denen die queere Community und | |
| ihre Orte verstärkt unter Beschuss stehen, sogar buchstäblich: Im März | |
| wurden Schüsse auf das Museum in Schöneberg abgefeuert. Und auch generell | |
| gehört es seit jeher zum Besteckkasten der Diskriminierung, Homosexuelle | |
| als „Knabenverführer“ oder gleich als „Kinderschänder“ abzustempeln. | |
| Andererseits: „Wer sollte so eine Ausstellung machen, wenn nicht wir?“, | |
| fragt SMB-Vorständin Birgit Bosold. | |
| Im umfangreichen Archiv des Museums lagert schließlich kistenweise Material | |
| von Schwulen-, Lesben- und Queergruppen, die sich zum Teil bis in die | |
| 1990er mit den Pädosexuellen solidarisierten, aber auch von Privatpersonen, | |
| darunter verurteilte Missbrauchstäter. So war es laut der bis 2011 | |
| geltenden Satzung Aufgabe des Museums, den Nachlass des Reformpädagogen | |
| Gustav Wyneken zu verwalten. Der für die bürgerliche Jugendbewegung | |
| prägende Mann, der zahlreiche päderastisch angereicherte Werke über den | |
| „pädagogischen Eros“ oder die „neue Jugend“ verfasste, wurde 1921 wegen | |
| Kindesmissbrauchs verurteilt. Auch andere brisante Zeugnisse der | |
| Verflechtung der homosexuellen Emanzipationsbewegung mit pädosexuellen | |
| Anliegen finden sich im teils noch immer unerschlossenen Archivbestand. | |
| Vier Kurator:innen aus dem Schwulen Museum Berlin und dem [1][Archiv | |
| der Deutschen Jugendbewegung] haben sechs Monate lang intensiv in | |
| Aktenregalen und Publikationen gegraben und präsentieren nun in zwei | |
| Ausstellungsräumen wenig Explizites, dafür aber viel Aufschlussreiches. Es | |
| sei von Anfang an klar gewesen, dass man das harte Zeug nicht zeige und | |
| keine Täterbilder reproduzieren wolle, sagt Bosold. | |
| In den Ausstellungsräumen geht es dennoch los mit einer Triggerwarnung – | |
| und mit einer Entschuldigung bei den Betroffenen. Hinter einer Wand aus | |
| Pappkartons – wohl symbolisch für die Mauer des Schweigens, die Missbrauch | |
| stets umgibt – sind historische Zeitschriften der sogenannten | |
| Homophilenbewegung vom Anfang des 20. Jahrhunderts zu sehen. | |
| Nischenpublikationen wie Der Eigene oder Die Insel zelebrieren | |
| „Freundschaft und Toleranz“, vor allem aber den männlich-athletischen | |
| Körper. Auf den Covern immer wieder auch Fotos von Kindern – | |
| interessanterweise aber nicht in den lesbischen Publikationen wie Die | |
| Freundin. | |
| Was verstören könnte, wurde von den Ausstellungsmacher*innen mit | |
| roten Folienschnipseln überklebt. Man sieht sehr schön, wie sich frühe | |
| Männerbündische wie der [2][„Wandervogel“]-Gründer Hans Blüher auf das | |
| antike Griechenland stützten, um pädosexuelle Beziehungen zwischen | |
| Erwachsenen und jugendlichen „Knaben“ zu rechtfertigen. | |
| Immer wieder wird Bezug genommen auf die kunstikonisch gewordene Figur des | |
| „Dornenausziehers“, der sich dekorativ verbiegt, und die Geschichte vom | |
| Raub des Hirtenjungen Ganymed, den sich Zeus in den Olymp holt. In den | |
| gezeigten Gedichten ist von der Hand des Lehrers auf dem „flachsblonden | |
| Haar“ des „schlanken Knaben“ zu lesen, von glühenden Küssen am Lagerfeu… | |
| und, frühes Zeugnis von homosexuellem Sextourismus, von einem „Jeune Arabe“ | |
| (junger Araber) mit „knospiger Knabenbrust“, der sich „liebevoll“ zahle… | |
| Touristen „hingibt“. | |
| Der homoerotische Kitsch wird effektvolll kontrastiert mit einer | |
| Hörstation, in der zehn Betroffene von ihren Missbrauchserfahrungen | |
| erzählen. Unter jedem Kopfhörer liegt ein Aktenordner, in dem das Erzählte, | |
| auch auf Englisch, nachgelesen werden kann. Es sind verstörende Berichte: | |
| Von Andreas, der von seinem Schwimmtrainer vergewaltigt wird und kein Gehör | |
| beim Schwimmverein findet. Von Monika, Tochter von Friedensaktivisten, die | |
| über eine kirchliche Waldjugendgruppe in ein pädosexuelles Netzwerk rund um | |
| den Sozialpädagogen (und Pfadfinder) Helmut Kentler gerät. Von „Noodle“, | |
| der mit zehn vom bündischen Gruppenführer missbraucht wird, stets mit dem | |
| Verweis aufs antike Griechenland, von „Herrn K.“, der mit elf Jahren in | |
| einer Kneipe Männern „angeboten“ wurde. Von Johanna, die erst vom | |
| Großvater, dann vom Vater vergewaltigt wird, was ihr die Mutter nicht | |
| glaubt. | |
| ## Das Feindbild des Kinderschänders | |
| Die Geschichten zeigen: Sexuelle Gewalt an Minderjährigen hat viele | |
| Gesichter und Kontexte, die Folgen sind aber für alle Betroffenen | |
| lebenslang spürbar. Gezeigt wird auch, wie die gesellschaftliche | |
| Verantwortung für sexuelle Gewalt immer wieder auf die Homosexuellen | |
| projiziert wird: Als Feindbild des „abnormalen Kinderschänders“ | |
| (eindrucksvoll dargestellt in der Schlussszene des Fritz-Lang-Films „M. Die | |
| Stadt sucht einen Mörder“) und in der Figur des schwulen | |
| „Knabenverführers“, die Friedrich Merz noch 2020 in der Bild-Zeitung nach | |
| der Frage zu einem möglichen schwulen Bundeskanzler bemühte. | |
| Der zweite Raum zeigt, wie sich pädosexuelle Rechtfertigungserzählungen im | |
| Lauf der Zeit gewandelt haben: Ab den 1960er Jahren wich die Verklärung des | |
| hierarchischen „pädagogischen Eros“ der Rede von Emanzipation, sexueller | |
| Befreiung und Kinderrechten. Im Kampf gegen den schikanösen Paragrafen 175 | |
| kämpfte die Schwulenbewegung, ebenso wie der Großteil des linksalternativen | |
| Milieus, auch für die Befreiung der Pädosexuellen. Die Verbindungslinien | |
| zwischen Jugendbewegung, Schwulenbewegung und den 1979 gegründeten Grünen | |
| symbolisiert eine [3][Figur wie Fred Karst] (1929–1999), der seine | |
| päderastischen Positionen erst im Deutschen Pfadfinderbund vertrat und | |
| später bei den Berliner Grünen die Arbeitsgemeinschaft „Jung und Alt“ | |
| leitete – und in einem Freizeittreff in Kreuzberg Jungen vergewaltigte. | |
| Die Ausstellung macht deutlich, wie flächendeckend und lange die | |
| homosexuelle Emanzipationsbewegung sich mit den Pädosexuellen | |
| solidarisierte. „Schwuler Karneval. Der 30. Juni gehört uns – den Schwulen, | |
| Lesben und Päderasten“ heißt es etwa in einem Plakat von 1979. Die | |
| Kreuzberger Frauenpädogruppe „Kanalratten“ darf sich Ende der 1980er | |
| unkritisch im Lesbenmagazin BellaDonna befragen lassen. Noch 1994 | |
| protestierte der Bundesverband Homosexualität gegen den Ausschluss der | |
| „Pädos“ aus dem internationalen Verband ILGA. | |
| ## Die Gegenwehr | |
| Auch die Gegenwehr wird dokumentiert, aus der feministischen Bewegung, von | |
| Grünen Frauen – und vereinzelt auch aus der Schwulenbewegung. Flankiert | |
| werden die Exponate von selbstkritischen Rückblicken von | |
| Szenepersönlichkeiten wie dem schwulen Comiczeichner Ralf König und | |
| Wünschen von Betroffenen an eine Aufarbeitung. | |
| Zu erforschen gibt es noch einiges. Allein die Kommerzialisierung von | |
| (sehr) jungen Körpern wäre Stoff für eine eigene Ausstellung. Schon in | |
| Heften aus den zwanziger Jahren wird mit Aktstudien schöner Knaben im | |
| Postversand geworben, später bewirbt die Homo-Zeitschrift Du und ich in | |
| einer Annonce in der Siegessäule Versandbilder von „Reizenden Buben bis 15 | |
| Jahren“, und selbst Beate Uhse verkauft entsprechendes Material, auch mit | |
| sexualisierten Darstellungen von Mädchen, die ohnehin den publizistischen | |
| Mainstream der 1970er dominierten. | |
| Die sehenswerte Ausstellung soll nach dem Wunsch der Kurator:innen nach | |
| Kassel weiterziehen. Hoffentlich animiert diese Pionierleistung der queeren | |
| Szene auch andere Institutionen dazu, sich kritisch mit der eigenen | |
| Geschichte auseinanderzusetzen. | |
| 16 Oct 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.burgludwigstein.de/forschen | |
| [2] /Zur-Geschichte-der-Jugendbewegung/!5039959 | |
| [3] /Paedophile-Taeter-bei-Berliner-Gruenen/!5200643 | |
| ## AUTOREN | |
| Nina Apin | |
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