# taz.de -- Ergebnisbericht zum Fall Kentler: Reformpädagogik als Deckmantel | |
> Ein neuer Aufarbeitungsbericht zum „Kentler-Experiment“ deckt ein | |
> Netzwerk auf, das Kinder und Jugendliche Pädosexuellen auslieferte. | |
Bild: Der Ergebnisbericht des dritten Aufarbeitungsprojektes zum „Kentler-Exp… | |
BERLIN taz | Westberliner Jugendämter vermittelten von den 1970ern bis in | |
die 1990er Jahre Kinder und Jugendliche an pädosexuelle Pflegeväter. Dieser | |
Skandal rund um den 2008 verstorbenen [1][Sexualpädagogen Helmut Kentler] | |
wird seit Jahren mit Hilfe von Betroffenen aufgearbeitet. Der letzte | |
Aufarbeitungsbericht wurde Ende 2022 vorgestellt. Die damalige | |
Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) entschuldigte sich bei den | |
Betroffenen, die lange um Aufarbeitung und finanzielle Entschädigung | |
kämpfen mussten. | |
Der damalige Bericht ließ gleichwohl viele Fragen offen. Nun haben die | |
Forscher*innen der Universität Hildesheim sich noch einmal tiefer in die | |
Akten gegraben und durch das Studium von Archivmaterial aus Universitäten, | |
pädagogischen Institutionen, Nachlässen und nicht zuletzt | |
Zeitzeugenbefragungen ein Netzwerk an Tätern und Mitwisser*innen | |
sichtbar gemacht, das weit über Berlin hinausführt. | |
Am Freitag stellte Katharina Günther-Wünsch (CDU), Scheeres' Nachfolgerin | |
als Bildungssenatorin, gemeinsam mit dem sechsköpfigen Forschungsteam der | |
Uni Hildesheim den Ergebnisbericht des dritten Aufarbeitungsprojektes zu | |
Helmut Kentlers Wirken in der Berliner Kinder- und Jugendhilfe vor. Im | |
Mittelpunkt standen dabei die Aufarbeitung der Verfahren und die | |
Verantwortung des Berliner Landesjugendamtes – und die Frage nach dessen | |
Verflechtungen mit anderen Institutionen und Akteuren. | |
## Vereinnahmung der Heimreform für eigene Zwecke | |
Knapp 100 Seiten mit ausführlich zitierten Erfahrungsberichten von drei | |
weiteren ehemaligen Pflegekindern: Mehr als deutlich wird daraus, dass | |
Berliner „Jugendamtskinder“ nicht nur an die hessische Odenwaldschule | |
geschickt wurden, wo der praktizierende Pädosexuelle Gerold Becker | |
Schulleiter war, sondern auch nach Tübingen und Lüneburg. Wobei die dort | |
als Pflegestellen registrierten Männer, die formal unter Fachaufsicht des | |
Berliner Landesjugendamts standen, auf fachlicher und/oder | |
freundschaftlicher Ebene mit Verantwortlichen im Berliner Landesjugendamt | |
oder der Senatsverwaltung für Jugend sowie diversen Westberliner | |
Heimeinrichtungen verbunden waren. | |
„Die Akteure vereinnahmten die Bewegung der Heimreform für eigene Zwecke, | |
die fachliche Komponente der Heimerziehung war dabei nachranging. | |
Sexualisierte Gewalt wurde dabei in Kauf genommen sowie gerechtfertigt und | |
junge Menschen als Objekte der Heimerziehung instrumentalisiert“, so das | |
Fazit der Wissenschaftler*innen. | |
Das hier teilweise offengelegte Netzwerk habe sich „durch die | |
Institutionen, Organisationen, Strukturen und Verfahren der offiziellen und | |
formalen Kinder- und Jugendhilfe, aber auch durch Hochschulen, | |
Forschungs-institute sowie Bildungs- und Ausbildungsinstitutionen“ gezogen. | |
Gezielt sei sexualisierte Gewalt in die Institutionen der Kinder- und | |
Jugendhilfe gebracht und dort dauerhaft institutionalisiert wurden. | |
## Kentler, Becker, Bonhoeffer, Widemann und die anderen | |
Anhand konkreter Personen und pädagogischer Institutionen schlüsseln die | |
Forscher*innen das Tun dieses Netzwerks auf. So waren am Pädagogischen | |
Seminar in Göttingen, dem zentralen Ort für die Bildungsreform ab den | |
1960er Jahren, sowohl Helmut Kentler als auch Hellmut Becker tätig. | |
Letzterer war wiederum im Planungsausschuss für die Gründung des | |
Pädagogischen Zentrums (PZ) in Berlin. Am PZ, dem Leuchtturm der | |
Heimreform, war gleichsam Kentler von 1966 bis 1974 Abteilungsdirektor. Und | |
genau während dieser Zeit sorgte er auch für die [2][Einrichtung von | |
Pflegestellen] bei drei vorbestraften pädosexuellen Männern, die erst vier | |
Jahrzehnte später unter dem Schlagwort „Kentler-Experiment“ für öffentli… | |
Empörung sorgten. | |
Von zentraler Bedeutung ist auch der Sozialpädagoge Martin Bonhoeffer, der | |
in Göttingen tätig war und von Kentler ans Berliner Landesjugendamt geholt | |
wurde, wo er für die Heimaufsicht tätig war – und seinen Vertrauten Peter | |
Widemann nach Berlin mitbrachte. Die von Bonhoeffer und Widemann geführte | |
Abteilung III im Landesjugendamt wird von den Forscher*innen als zentral | |
für die Unterbringung von Kindern und Jugendlichen in fragwürdigen | |
Pflegestellen identifiziert. | |
Neben Kentler selbst, der nicht nur drei Adoptivsöhne, sondern anscheinend | |
im Rahmen der Haft- und Bewährungshilfe auch mehrere Jugendliche aus der | |
Strafanstalt Plötzensee bei sich zu Hause untergebracht hatte (ein | |
Betroffener berichtet von massiven sexuellen Übergriffen des „Fürsorgers“… | |
tauchen auch neue, bislang unbekannte Namen im Bericht auf. Etwa der des | |
Pflegevaters Herbert E. Colla-Müller aus Lüneburg, der in Göttingen am | |
Pädagogischen Seminar und später an der Jugendschutzstätte „Haus auf der | |
Hufe“ arbeitete, an der auch Martin Bonhoeffer tätig war. | |
## Netzwerk weit über Berlin hinaus | |
Den neuen Erkenntnissen aus Hildesheim zufolge wurden mehrere Berliner | |
Jugendliche Anfang der 1980er Jahre in einer Sonderpflegestelle bei | |
Colla-Müller in Lüneburg untergebracht, die vom Bezirksamt Kreuzberg | |
geführt wurde. Ein Betroffener berichtet, wie er und ein anderer Junge | |
versuchten, sich der sexuellen Übergriffe durch Colla-Müller zu erwehren, | |
wie dieser ihn gezielt vom Kontakt mit seiner Mutter abschnitt. Und wie er | |
beim Pflegevater entdecktes kinderpornografisches Material meldete. | |
Auf letzteres reagierte das Jugendamt nicht einmal. Laut Aktenlage entließ | |
das Amt den damals erst 16-Jährigen aus der Pflegestelle; dieser zog | |
allein, ohne Aufsicht auf eine norddeutsche Insel. Auch das ein | |
befremdliches Behördenverhalten, das viele Fragen aufwirft. | |
Besonders aufschlussreich sind die im Bericht beispielhaft vorgestellten | |
Analysen von insgesamt 67 vollständig gesichteten Akten. Aus ihnen lässt | |
sich nachvollziehen, dass Helmut Kentlers „Experiment“ mit Pflegestellen | |
bei Pädosexuellen über Berlin hinaus Schule machte. | |
Die Einrichtungsakte des „Vereins für Sozialtherapie in Tübingen“ etwa | |
dokumentiert die Unterbringung eines jugendlichen „Trebegängers“ durch den | |
Berliner Senator für Familie, Jugend und Sport. Der Jugendliche wird von | |
einem Berliner Krankenpfleger, zu dem er engen Kontakt hat, zu Martin | |
Bonhoeffer nach Tübingen in die Sozialtherapeutischen Wohngruppen gebracht. | |
Später wird auf Anraten Bonhoeffers ein sogenanntes pädagogisches | |
Experiment, eine „Verbundpflegestelle“, eingerichtet. Eine externe Wohnung | |
wird angemietet, in der der Krankenpfleger und der Jugendliche gemeinsam | |
leben. Die „Verbundpflegestelle“ wird vom Senat finanziert und von | |
Bonhoeffer begleitet. | |
## Geschichte der Heimreform muss neu geschrieben werden | |
Andere Aktenanalysen belegen, dass es immer wieder bestimmte | |
Jugendhilfeeinrichtungen waren, wie das Haus Tegeler See oder das | |
Hauptkinderheim Berlin, aus denen Kinder und Jugendliche in die Fänge des | |
(pädo-)pädagogischen Netzwerks verbracht wurden. Insgesamt entsteht der | |
Eindruck, dass hier erst einzelne Fäden eines pro-pädosexuellen Netzwerks | |
sichtbar wurden. | |
Die Geschichte der vielgelobten Westberliner Heimreform-Bewegung muss | |
offenbar neu geschrieben werden. CDU-Bildungssenatorin Günther-Wünsch | |
empfahl am Freitag eine Fortsetzung der Aufarbeitung in anderen | |
Bundesländern. | |
Kerstin Claus, die Unabhängige Beauftragte der Bundesregierung, erklärte, | |
der Bericht mache den Handlungsbedarf deutlich bei der Qualifizierung von | |
Fachkräften in der Sozialen Arbeit, besonders wenn sie im Kinderschutz | |
eingesetzt würden. „Täternetzwerke, wie sie die Kentler-Studie jetzt | |
sichtbar gemacht hat, waren nur möglich, weil hier manipulative | |
Täterstrategien auf fehlendes Kinderschutzwissen gestoßen sind.“ | |
23 Feb 2024 | |
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## AUTOREN | |
Nina Apin | |
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