# taz.de -- Neun Tote nach Polizeieinsatz in Favela: Unfall oder geplanter Mord? | |
> In Brasilien starben am Wochenende neun Menschen bei einem Polizeieinsatz | |
> in einer Favela. Bewohner*innen halten das für einen Racheakt der | |
> Polizei. | |
Bild: Trauerfeier für den am Sonntag getöteten 16-jährigen Denys Quirino | |
SãO PAULO taz | Die Rua Ernest Renan ist eine wuselige Straße mit kleinen | |
Geschäften, Frisörsalons und evangelikalen Kirchen im Herzen der Favela | |
Paraisópolis im Süden von São Paulo. Am Montag erinnert kaum noch etwas | |
daran, was hier zwei Tage zuvor geschah. Nach einem Polizeieinsatz auf | |
einer [1][Baile-Funk]-Party kam es am Samstagabend zu einer Massenpanik. Am | |
Ende des Abends waren neun junge Menschen tot. Wie konnte es dazu kommen? | |
Die Polizei erklärte, dass sie zwei Verbrecher auf einem Motorrad verfolgt | |
habe, mit denen es zuvor einen Schusswechsel gegeben habe. Die Kriminellen | |
seien auf die Party geflüchtet, Partybesucher*innen hätten die Polizisten | |
mit Steinen und Flaschen angegriffen. Mit Tränengas und Gummigeschossen | |
löste die Polizei daraufhin die Party auf. Rund 5.000 Menschen feierten da | |
auf den Straßen der Favela. | |
In einer engen Gasse starben sieben der neun Menschen, die an dem Abend ums | |
Leben kamen. Am Montag erinnert nur noch ein mit roten Flecken bemaltes | |
Holzkreuz an das Drama. Ein junger Mann, der anonym bleiben will, war am | |
Samstag auf der Party, um Hotdogs zu verkaufen. „Die Polizei hat alle | |
Straßen abgeriegelt und plötzlich angefangen, mit Tränengas und | |
Gummigeschossen zu schießen“, sagt er und zieht sein T-Shirt hoch. Auf | |
seinem Bauch hat er einen roten Abdruck eines Gummigeschosses. | |
„Ich glaube, dass die Polizei die Geschichte mit den Banditen erfunden hat. | |
Der Einsatz war genau so geplant, da bin ich mir sicher“, sagt er. Auch | |
andere Bewohner*innen glauben nicht an einen Unfall und sprechen von einem | |
„Hinterhalt“ der [2][Polizei]. | |
## Die Partys ziehen Menschen aus der ganzen Stadt an | |
Paraisópolis hat mehr als 100.000 Einwohner*innen und ist die zweitgrößte | |
Favela der Megametropole. Die Favela befindet sich in unmittelbarer Nähe zu | |
den reichsten Stadtteilen São Paulos. Hinter dem Meer aus roten | |
Backsteinhäusern ragen die luxuriösen Wohntürme des Viertels Morumbi empor. | |
Die pulsierenden Baile-Funk-Partys ziehen Menschen aus der ganzen Stadt an. | |
Keines der neun Opfer stammte aus Paraisópolis, die meisten Toten waren aus | |
anderen Favelas angereist. | |
Mehrere Bewohner*innen der Favela vermuten, dass der Einsatz am Samstag ein | |
Racheakt für einen getöteten Polizisten war. Vor einem Monat starb in der | |
Favela ein Polizist nach einem Schusswechsel mit Dealern. Polizisten hatten | |
danach eine Welle des Terrors angekündigt. Mehrere Bewohner*innen der | |
Favela berichten von willkürlichen Verhaftungen und Drohungen. Es wäre | |
nicht das erste Mal, dass Polizisten den Tod eines Kollegen „rächen“. | |
In WhatsApp-Gruppen zirkulieren Audionachrichten von Polizisten, die dort | |
erklären, dass „viel zu wenige“ Favela-Bewohner gestorben seien. Videos in | |
sozialen Medien zeigen, wie Polizeibeamte Partybesucher*innen misshandeln. | |
Sechs Polizist*innen wurden vorübergehend freigestellt, es wurden | |
Ermittlungen eingeleitet. | |
Der rechte Gouverneur des Bundesstaates São Paulo, [3][João Doria], | |
verteidigte am Montag bei einer Pressekonferenz den Einsatz und erklärte, | |
dass die Polizei nichts falsch gemacht habe. Das sieht Gilson Rodrigues, | |
Präsident der Anwohnervereinigung, gegenüber der taz anders. „Die Polizei | |
hätte niemals in dieser Weise gegen eine Party mit 5.000 Teilnehmern | |
vorgehen dürfen. Die Aussagen des Gouverneurs sind falsch.“ Auch der | |
Präsident der Menschenrechtsvereinigung der Landesregierung von São Paulo | |
bezeichnete den Einsatz als „Massaker“. | |
## Erdrückt, erstickt oder von der Polizei erschlagen? | |
Laut der Polizei starben die jungen Partybesucher*innen nach der Panik | |
durch Ersticken und Zerquetschen. Der junge Hotdog-Verkäufer schließt | |
allerdings nicht aus, dass sie ermordet wurden. „Ich habe gesehen, wie | |
Polizisten die Leichen noch am Abend wegtrugen und den Tatort gründlich | |
reinigten. Ich halte es nicht für unwahrscheinlich, dass einige von ihnen | |
von den Polizisten erschlagen wurden.“ Laut Presseberichten glauben auch | |
Angehörige von mehreren Opfern nicht an die Version der Polizei. | |
Auf einer Mauer vor einem kleinen Tonstudio sitzt Thiago Almeida. Der | |
16-Jährige mit Brille und Kreuz-Ohrring ist in der Favela als Rapper TH13 | |
bekannt. „Genau solche Einsätze sind der Grund, warum wir Armen der Polizei | |
nicht trauen und warum wir ohne Polizei sicherer leben.“ | |
Aus Angst vor weiteren Operationen der Polizei sagte er eine für Sonntag | |
geplante HipHop-Party in der Favela ab. Laut Almeida finden überall in der | |
Stadt Baile-Funk-Partys statt. „In den Vierteln der Reichen läuft die | |
gleiche Musik wie hier und die Kids nehmen die gleichen Drogen. Doch dort | |
werden sie von der Polizei geschützt, während wir getötet werden.“ | |
4 Dec 2019 | |
## LINKS | |
[1] /Fotograf-ueber-Baile-Funk-in-Brasilien/!5321261 | |
[2] /Steigende-Polizeigewalt-in-Brasilien/!5504933 | |
[3] /Rechte-Hetze-gegen-Graffiti-Ausstellung/!5502571 | |
## AUTOREN | |
Niklas Franzen | |
## TAGS | |
Brasilien | |
Schwerpunkt Polizeigewalt und Rassismus | |
Favelas | |
São Paulo | |
Brasilien | |
Chico Buarque | |
Rio de Janeiro | |
Brasilien | |
Schwerpunkt Polizeigewalt und Rassismus | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Gewalt in Brasiliens Rio de Janeiro: Polizeieinsatz wird zum Massaker | |
Bei einer Razzia in einer Favela von Rio sterben mindestens 18 Menschen. | |
Der Gouverneur verteidigt die Strategie gegen massive Kritik. | |
Brasilianische Kultur unter Bolsonaro: Küssen verboten | |
Seit der Wahl des rechten Präsidenten stehen Künstler unter Dauerbeschuss. | |
Die Förderung wird eingeschränkt, es wird zensiert und offen gedroht. | |
Steigende Polizeigewalt in Brasilien: 5.000 Tote bei Einsätzen der Polizei | |
Immer mehr Menschen sterben in Brasilien durch Kugeln der Polizei. Diese | |
spricht von Notwehr, Menschenrechtler dagegen erkennen Hinrichtungen. | |
Polizeigewalt in Brasilien: Fackel mit Blutspuren | |
Die Gewalt in den Favelas macht auch während der Olympischen Spielen nicht | |
halt. Die Polizei tötet vor allem schwarze junge Männer. | |
Amnesty über Polizei von Rio de Janeiro: „Erst schießen, dann fragen“ | |
Mehr als 1.500 Tote in fünf Jahren: Menschenrechtler beklagen, dass die | |
Polizei der brasilianischen Metropole unverhältnismäßig gewalttätig ist. |