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# taz.de -- Neues Album von Oneohtrix Point Never: Technik sehnt sich nach Dumm…
> Diesmal mit Songs: US-Produzent Oneohtrix Point Never zeigt sich auf dem
> neuen Album „Age Of“ offen für Popideen und Input von FreundInnen.
Bild: Heller Kopf: Daniel Lopatin alias Oneohtrix Point Never
Oneohtrix Point Never, der Sound der zehner Jahre, die letzte
Poptheoriebombe: Vom „Aufstieg des Internets als Landschaft des Erhabenen“
schreibt der britische Autor Simon Reynolds in seinem Werk „Retromania“
(2011) und wie es von Oneohtrix seismografisch begriffen und in Musik
umgewandelt werde, von „kollektiver Erinnerung und vergrabenen Utopismen
der kapitalistischen Waren“, die sie verhandle. „Bullshit“, lacht Daniel
Lopatin, der New Yorker Künstler hinter dem experimentellen
Electronics-Projekt. „Ich war ein Innenarchitekt in New-Age-Musik, mehr
aber auch nicht“, sagt er über die Zeit, als seine Alben allerorten als
Sound gewordenes Zeitgefühl angepriesen wurden.
Der Mittdreißiger ist ein entwaffnender Mensch, es gab wohl schon ein paar
Tassen Kaffee zu viel an diesem Nachmittag in Berlin, er redet wie ein
Wasserfall, scherzt. Fast erleichtert darüber, diesmal kein Konzept aus
Musik vorzustellen, sondern nur ein neues Album, das ein paar starke Songs
hat, ein paar große Namen als Gaststars aufbietet, aber sicher nicht die
Welt ändern wird. „Age Of“ heißt es, aber welches Zeitalter es verheißt,
bleibt für jemand wie Lopatin, der von sich selbst auch ohne das
retromanische Verschieben von Zukunft und Vergangenheit behauptet, einen
„Geschichtsfetisch“ zu besitzen, angemessen unklar.
Dass Lopatin für Interviews um die Welt reisen würde, wäre vor zehn Jahren
noch undenkbar gewesen. Inspiriert von den flirrenden Synthies der
John-Carpenter-Soundtracks, Krautrock der Berliner Schule wie Ash Ra Temple
und Tangerine Dream und dem holländischen House-Produzenten Legowelt,
bastelte er seit 2007 obskure musikalische Echos. Sein Album „Replica“
(2011) wiederum, mit dem er den Durchbruch schaffte, klang wesentlich
origineller – obwohl es rein aus Samples bestand, Tonspuren, Minimalklängen
aus Fernsehwerbung der 1980er und 1990er.
## Kunst aus Wegwerfsound
„Ich wollte von einem Readymade ausgehen, von Musik, die die meisten als
Wegwerfsound bezeichnen, und etwas Persönliches daraus kreieren.“ Die
Kritik feierte ihn, das Label Warp nahm Oneohtrix Point Never unter
Vertrag, es entstanden bis heute drei weitere Alben, mehr machte er zuletzt
als Produzent und als Komponist von Filmmusik von sich reden – 2017 gewann
sein Score zu „Good Time“ bei den Filmfestspielen in Cannes.
Vor allem sein Einfluss auf den neuen Sound des früheren Kammerpop-Wunders
Anohni, die 2016 mit einem poetisch-schroffen elektronischen Album über den
Untergang der Erde namens „Hopelessness“ einen künstlerischen Neubeginn
wagte, machte ihn auch außerhalb der Elektro-Avantgarde bekannt. Anohni ist
mittlerweile eine enge Freundin Lopatins und tritt auch mehrfach als
Gastsängerin auf „Age Of“ in Erscheinung.
Dass das neue Werk „Age Of“ grundlegend anders, offener klingt als der
bisherige Sound von Lopatin, liegt an intensiver Selbstbetrachtung: „Alles
in meinem Leben ist eine Zusammenarbeit. Aber Oneohtrix Point Never bin ich
allein. Als ich das begriff, fand ich es eklig, fast mittelalterlich. Also
öffnete ich die Musik. Das heißt nicht, dass da nun ein Haufen Leute
rumsitzt und jammt, Oneohtrix ist nicht Grateful Dead. Ich hab das Projekt
nur ein wenig auseinandergebaut und mit meinen Freunden geteilt.“
## MIDI-Cembalo-Sound
Das Album, das lose auf einem umgekehrt gedachten „2001 – Odyssee im
Weltraum“ basiert, in der die Technik sich nach menschlicher Dummheit sehnt
und entsprechend zarathustrisch mit einem spacigen Brocken barocken
MIDI-Cembalo-Sounds beginnt, ist für Lopatin fast eine Befreiung. „Für mich
ist es eine Erleichterung, als könnte ich endlich wieder Luft holen. Vorher
war ich jemand, der sagte: ‚Fuck off, so klingt es jetzt!‘ Dieser Mensch
wollte ich nie sein.“
Nun singen befreundete Kolleg*innen Lopatins Gesangslinien und wirken
anderweitig mit, Experimental-Elektroniker Prurient ist darunter,
Soul-Cello-Erneuerin Kelsey Lu. Sogar ans Mischpult durfte sich ein anderer
setzen – was vermutlich leichter fällt, wenn es ein Kollege wie James Blake
ist.
In vielem klingt der Sound von Oneohtrix dadurch eingehegter und weniger
mesmerisierend, aber auch viel strahlender in seiner Lust auf Pop, die auch
dann noch durch Wurzelgeflechte aller Avantgarden hindurchscheint, wenn
eine von Lopatins Hooklines ursprünglich für den R&B-Sänger Usher
komponiert wurde. „Age Of“ bildet ab, was Lopatin bewegt, theoretisch wie
musikalisch, aber stellt es nicht intellektualistisch aus: Robin Williams’
Testament, in dem er postume CGI-Auftritte seiner selbst unterbindet, die
„Cybernetic Culture Research Unit“ des kontroversen Akzelerationisten und
Horrorautors Nick Land und die Hassliebe zu New York, es gibt Daxophon,
Sitar, House, Drones, R&B und Splattersoundschnipsel. Der Wahnsinn ist
schließlich, sagt er, nur ausgelagert: in die Bühnenshow,
„myriad.industries“, die Theater, Konzert und Multimedia-Installation
verbindet, eine hochgradig durchkonzeptualisierte „Korsarenversion von
Oper“.
## Lose Verbindungen
Dass er damit in die Hochkulturfalle tappt, steht also vorerst nicht zu
befürchten. Auch wenn er sich immer wieder auf dubiose Vorbilder beruft:
„Ich wollte eine Siebziger-Jahre-Golden-Age-Version von Oneohtrix, in der
alle sagen: ‚Oh yes, das ist einfach Musik.‘“ Nicht umsonst, aber im
scheinbaren Widerspruch vielleicht zu seinem neuen Ansatz, Kollaborationen
der einsamen Arbeit vorzuziehen, feiert er gerade Musik von Paul McCartney
und Stevie Wonder: „Meine Lieblingsmusik ist solche, bei der das ganze
Album nur von einer Person verantwortet wird. Das ist das Beste.
Weil es sich immer schmierig anfühlt, so, als würde etwas nicht ganz
stimmen. Jedes Album ist eine Gelegenheit, eine Symphonie über mich zu
komponieren. Alles spielt die gleiche psychische Frequenz.“ Vielleicht
lässt sich Identität im Digitalen gar nicht anders denken denn als solche
Ansammlung loser Verbindungen, die nichts weiter teilen als eine Frequenz.
Dann hätte Oneohtrix Point Never sich und seine Gegenwart hier bestens
porträtiert – und Simon Reynolds doch recht behalten.
Zugleich retro an die Siebziger gemahnend und absolut aktuell ist in jedem
Falle aber die Geschichte, die das Album eher fühlen als erzählen will:
„Ich sammle im Internet Bilder, die ich sortiere: Echo, Ernte, Exzess und
Fessel. Das ordnet für mich auch das Album. Es ist eine Art Parabel, wie
künstliche Intelligenz den Prozess beschreibt, den die Menschheit
durchläuft. Es ist ein Zirkel, den wir immer wieder beschreiten. Wir lernen
Sprache, darum können wir mehr ernten, aber wir ernten mehr als wir
pflanzen, also zerstören wir, was uns füttert, werden so groß, dass wir uns
nicht mehr bewegen können, sind gefesselt, bis wir platzen. Dann geht es
von Neuem los.“
Vielleicht war es nicht nur Lopatin, der den Sound von Anohni neu fand,
vielleicht fand auch Anohni ein neues Mindset für Lopatin: Man darf „Age
Of“ als eine Fantasy-Version von „Hopelessness“ verstehen.
1 Jun 2018
## AUTOREN
Steffen Greiner
## TAGS
Simon Reynolds
Elektronik
Google
elektronische Musik
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